Demografischer Wandel Die Geburtenrate sinkt – die Türkei droht zu überaltern
Stand: 09.12.2025 05:14 Uhr
Auch in der Türkei wird die Bevölkerung immer älter. Präsident Erdogan versucht gegenzusteuern. Er preist die Familie als einzig wahre Lebensform und ruft dazu auf, möglichst viele Kinder zu bekommen.
Von Uwe Lueb und Hülya Akgülden, ARD Istanbul
„Die Geburtenrate in der Türkei ist erstmals in der Geschichte auf 1,48 gesunken. Das ist eine Katastrophe!“ So äußerte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede schon vor Monaten. Damit die Gesellschaft nicht schrumpft, müsste die Geburtenrate bei 2,1 liegen. Doch die Tendenz ist weiter rückläufig.
Erdogan weiß: Für den Arbeitsmarkt, das Wirtschaftswachstum, die Rentenversicherung, ist das Gift. Also fordert er seine Landsleute auf, mehr Kinder zu bekommen. Drei sollten es sein – pro Paar. Neulich sagte er sogar: „Warum nicht vier oder fünf?“
Mindestlohn kann keine Familie finanzieren
Nur wie soll das wirtschaftlich gehen, fragt der Chef der größten Oppositionspartei, CHP, Özgür Özel direkt die Regierung: „Man zahlt einen Mindestlohn von 22.000 Lira und fragt: ‚Warum bekommt ihr keine Kinder?‘ Wie soll das funktionieren?“
22.000 Lira entsprechen knapp 450 Euro. Das reicht in Istanbul nicht mal für eine kleine Wohnung, geschweige denn für eine Familie. Tatsächlich sagen viele, die Kosten für Lebenshaltung und Bildung hinderten sie, mehr Kinder zu bekommen. So wie diese Mutter: „Ich habe nur ein Kind. Ich arbeite, bin Lehrerin. Ich weiß, wie schwierig es ist, für die Kosten eines Schulkindes aufzukommen. Schulmaterial, Schulbus, Mittagessen und so weiter. Da ist ein zweites Kind fast unmöglich.“
Erdogan sieht andere Gründe für Geburtenrückgang
Erdogan macht aber auch anderes verantwortlich, wie etwa die von ihm ständig als pervers bezeichnete LGBT-Bewegung. Zugleich ruft er Männer auf, sich mehr an der Familienarbeit zu beteiligen. Gleichwohl: Auch Erdogans Regierung erkennt hohe finanzielle Belastungen gerade für Familien an. Sie will familienpolitische Leistungen ausbauen. Und doch, sagt der Präsident, am Geld allein kann es nicht liegen: „In Zeiten, in denen das Pro-Kopf-Einkommen nur ein Fünftel des heutigen Niveaus betrug, war die Geburtenrate unseres Landes fast doppelt so hoch.“
Dennoch spielt fehlendes Geld eine wichtige Rolle, führt Ali Eryurt aus. Er ist Soziologe der renommierten Hacettepe Universität in Ankara. Im ARD-Interview rechnet er vor: „Vor allem die Bildungskosten haben stark zugenommen, da sich Privatschulen immer weiter verbreitet haben. Familien müssen von der Kita an für jede weitere Bildungsstufe fast ein Vermögen ausgeben.“
Als alleinigen Grund für die niedrige Geburtenrate lässt das jedoch auch Eryurt nicht gelten. Mitverantwortlich sei etwa ein grundlegender Wandel der Gesellschaft, eine veränderte Erwartungshaltung an das eigene Leben. „Die früher vorherrschende familienorientierte Haltung sowie Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit sind zunehmend individualistischen Wünschen nach persönlicher Entwicklung, Freiheit und Selbstverwirklichung gewichen.“
Eltern investieren bewusst in nur ein Kind
Dazu komme ein umkämpfter Arbeitsmarkt – zumindest in Bezug auf besser bezahlte Berufe. Junge Eltern sähen sich in einem Wettbewerb, in dem ihr Kind mithalten solle. Daher investierten sie bewusst nur in ein Kind. Eryurt spricht sogar von einer sich ausbreitenden „Ein-Kind-Norm“.
Die Ansätze der Regierung wie längere Erziehungszeiten oder eine Ausweitung des Kindergeldes hält er nicht für falsch. Doch er plädiert für einen grundlegenden Politikwechsel. Es reiche nicht, irgendwie nur die Geburtenrate erhöhen zu wollen.
Der Staat müsse es Paaren ermöglichen, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Dazu zählten mehr Betreuungsmöglichkeiten und bessere allgemein zugängliche Bildung. „Die Ausweitung von Kindertagesstätten, die Verbesserung ihrer Qualität und die weitgehende Kostenübernahme durch den Staat würden es den Paaren erleichtern, so viele Kinder zu bekommen, wie sie möchten.“
Am Ende läuft es auf dasselbe hinaus wie in vielen anderen Ländern: Paare müssen mehr Kinder bekommen. Sonst dürfte auch die noch junge Gesellschaft in der Türkei in rund 20 bis 30 Jahren überaltert sein.









