Friedenspreisträger Karl Schlögel über die Krisen der Gegenwart „Europa fehlt eine Antwort auf die Wiederkehr des Krieges“
Interview | Berlin · Klare Worte des neuen Friedenspreisträgers: Nach 80 Jahren Frieden fällt es der Nachkriegsgeneration im Westen noch immer schwer, sich auf die neue Kriegssituation einzulassen, sagt der Historiker Karl Schlögel. Dabei würde Russland nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine führen, sondern gegen den kollektiven Westen.
Der neue Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels: der Historiker und Publizist Karl Schlögel (77).
Foto: picture alliance/Friedrich Bungert/dpa
Wohin sollte sich unser Blick derzeit als Erstes wenden, wenn wir nach jener Schaltstelle suchen, an der sich möglicherweise die Zukunft unserer Welt entscheidet? Auf welches Land müsste sich der Fokus richten?
Schlögel Das ist für mich nach wie vor der Krieg in der Ukraine. Ich verfolge die Lage dort praktisch 24 Stunden am Tag und versuche so viele Nachrichten wie möglich zu bekommen – ob es nun ukrainische, russische, amerikanische oder deutsche Quellen sind. Ich versuche also, mir ein Bild vom Krieg dort zu machen. Dass gleichzeitig anderswo furchtbare Kriege stattfinden, das weiß ich wohl: Seit dem Angriff der Hamas auf Israel, seit dem Krieg in Gaza. Und es gibt so viele andere. Ich erinnere mich an eine große Sudan-Reportage von Anne Applebaum, die im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis geehrt wurde. Über einen Krieg jenseits unserer Aufmerksamkeit, in dem apokalyptische Dinge geschehen. Aber ich bin vollständig beschäftigt mit den Ländern, in denen ich mich am besten auskenne.
Wenn man auf die Ukraine blickt, muss man zugleich auf das westliche Europa schauen und auf seine neue Rolle, die es zu spielen hat. Wobei man zunehmend den Eindruck gewinnt, dass die Entscheidungswege viel zu lang sind und die Reaktionen oft zu spät kommen. Ist in Zeiten des Krieges nicht ein weitaus schnelleres Handeln erforderlich?
Schlögel Dieses Dilemma gibt es schon seit Beginn des Krieges. Es hat ja schon lange gedauert, die Ukraine überhaupt wahrzunehmen und die Besetzung der Krim durch russische Truppen ernst zu nehmen. Es brauchte ja schon viel Zeit, bis Europa überhaupt zur Kenntnis nahm, was da vor sich geht, und noch länger, bis man sich zu Sanktionen entschloss. Die späten und zögerlichen Entscheidungen hängen damit zusammen, dass alles, was im östlichen Europa vor sich ging, immer noch außerhalb der Wahrnehmung der Westeuropäer lag. Das waren die Spätfolgen der Ost-West-Teilung Europas, sie halten bis heute an. Und das zeigt sich erst recht in schleppenden Entscheidungsprozessen. Europa war schlecht aufgestellt für eine klare und zügige Antwort auf die Wiederkehr des Krieges, Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und das ist es auch heute noch.
Wie kann es in Europa zu schnelleren Entscheidungen kommen? Bedarf es einer neuen Institution, die vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten tätig wird?
Schlögel Europa war ja nicht auf den Ernstfall eines Angriffskrieges eingestellt. Wenn man 80 Jahre lang in einer Friedenszeit gelebt hat, und sich daran gewöhnt hat, Sicherheit und Frieden für selbstverständlich zu halten, dann ist man auf einen solch radikalen Einschnitt nicht gefasst. Die Erfahrung der Generationen, die nach dem Krieg aufgewachsen sind, wird mit einem Mal über den Haufen geworfen. Sich auf die neue Situation einzulassen, ist ein ziemlich schmerzlicher Vorgang. Das ist nicht einfach, indem man einen Schalter umlegt.
Das heißt auch, die Weltmächte USA und Russland einschätzen zu können. Ist eine Analyse dieser Akteure derzeit überhaupt möglich?
Schlögel Die russische Führung findet sich mit dem Ende des sowjetischen Imperiums nicht ab, Putins Russland ist eine revisionistische und neoimperialistische Macht. Sie zeigt das in der Entschlossenheit ihrer Kriegführung, die auf die Kapitulation und Unterwerfung der Ukraine abzielt. Da sie an der Front trotz größter eigener Opfer kaum vorankommt, der Blitzkrieg gescheitert ist, greift sie die Städte, die Zivilbevölkerung an und will deren Widerstand physisch und moralisch brechen. Das kann man jeden Tag und jede Nacht sehen. Dass es dabei nicht nur um die Ukraine geht, sondern um einen Krieg gegen den „kollektiven Westen“, wird ganz offiziell ausgesprochen. Man muss nur Putin und seinem Sprecher Peskow zuhören. Wladimir Solowjow erklärt uns jeden Abend in seiner Talkshow: Wir werden Euch, den Westen, fertigmachen. Oder der intellektuelle Kriegstreiber Sergej Karaganow, der klipp und klar dazu aufruft: Wir werden Europa das Rückgrat brechen. Nun haben wir es aber nicht mehr nur mit Putins Krieg zu tun. Die Frage ist auch, was in Amerika vor sich geht.
Diese Frage dürfte schwerer zu beantworten sein.
Schlögel Die USA sind eine stolpernde, strauchelnde, unsichere Nation, die ihren Platz in der Welt nach dem Ende des amerikanischen Jahrhunderts noch nicht gefunden hat. Was dort geschieht, sind ganz neue Erscheinungen, auf die selbst das nachdenklich selbstkritische Amerika nicht eingestellt ist. Zu begreifen, was in Amerika aktuell vor sich geht, ist ein großes Rätsel selbst für jene, die das Land gut kennen. Mich beschäftigt vor allem, wie es möglich ist, dass die Trump-Administration fast putschistisch an den traditionsreichen Institutionen vorbei – die über viele Generationen gewachsen sind – durchregiert. Die Frage ist, wo jetzt eigentlich die Sicherungen sind, auf die man bisher vertrauen konnte? Also das, wofür die amerikanische Demokratie, die westliche und die transatlantische Welt einmal gestanden haben. Ich bleibe allerdings dabei, dass Amerika mehr ist als nur das jeweilige Personal im Oval Office.
Ist das jeweilige Führungspersonal demnach nicht ganz so bedeutsam?
Schlögel Nein, im Gegenteil. Führergestalten – ob nun Putin oder Trump – spielen natürlich eine zentrale Rolle, besonders in Zeiten des Umbruchs. Man kann die Geschichte der vergangenen Jahre ohne den Aufstieg der starken Männer nicht verstehen. Es gibt keinen Putinismus ohne Putin, und es gibt kein Amerika der letzten Jahre ohne die Gestalt Trumps. Bei allem Unterschied der Systeme, die sie repräsentieren. Eine Sozial- und Geschichtswissenschaft, die sich nur noch für Strukturen und Institutionen interessiert hat, hat die manchmal ausschlaggebende Rolle des Individuums in der Geschichte unterschätzt. Hier ist ein neues Nachdenken über theoretische Probleme fällig, wenn man verstehen will, was in Russland und in Amerika vor sich geht – aber auch in unserem Land.
Sie bekommen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Zeiten eines Krieges. Eine der Grundlagen dieser Ehrung ist unter anderem die Schrift von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“. Ist dieser Wunsch von 1795 kaum mehr als eine Utopie?
Schlögel Wenn man durch die Geschichte des Friedenspreises geht, sind viele Auszeichnungen vor dem Hintergrund der Bewältigung schwieriger Situationen geschehen. Das war nach 1945 so, nämlich herauszukommen aus den Schrecken und Traumata des Zweiten Weltkrieges. Das war in der Zeit des Kalten Krieges so. Und es war nach 1989 mit dem Fall der Mauer die Aussicht, dass es tatsächlich so etwas wie einen endlich gelingenden Frieden geben würde. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist klar, dass Friede in Europa sich nicht von selbst versteht. Ich verstehe Ort und Zeit der Verleihung des Friedenspreises als Einladung zur Verständigung darüber, was es heißt, immer aufs Neue den Frieden zu erhalten oder wieder herzustellen – gerade in gefährdeten Zeiten.
Der Friedenspreis hat aus unterschiedlichen Gründen und Motivationen immer wieder Debatten ausgelöst. Das waren dann keine Ausrutscher, sondern wichtige Anstöße in die Gesellschaft über die Preisverleihung hinaus. Würden Sie sich das auch für Ihre Auszeichnung und Rede wünschen?
Schlögel Es braucht eine offene Diskussion, die dem Ernst der Lage angemessen ist, in der über die Verteidigung der Freiheit und der Souveränität eines unabhängigen europäischen Staates gesprochen werden kann und über die Wege, die herausführen aus einem furchtbaren und zerstörerischen Krieg in einen dauerhaften Frieden. Die Frage ist nicht nur, ob man das will, sondern ob man das auch kann und dazu bereit ist, die Opfer, die damit verbunden sind, zu tragen. Dafür eine Sprache zu finden, ist eine große Herausforderung.
Sie stehen in der Nachfolge und Tradition vieler namhafter Friedenspreisträgerinnen und -preisträger. Gibt es in dieser Reihe jemanden, dem Sie sich in besonderer Weise verpflichtet fühlen?
Schlögel Einige der Preisträgerinnen und Preisträger habe ich noch persönlich gekannt: ob das nun Lew Kopelew ist, mit dem ich befreundet war, oder Claudio Magris und Swetlana Alexijewitsch, auf die ich die Laudatio in der Paulskirche halten durfte. Es ist eine beeindruckende und verpflichtende Reihe von Persönlichkeiten und Lebensschicksalen. Man kann die Friedenspreisreden fast wie eine Chronik der geistigen Situation der Zeit lesen.
Friedenspreisträger Karl Schlögel über die Krisen der Gegenwart „Europa fehlt eine Antwort auf die Wiederkehr des Krieges“
Interview | Berlin · Klare Worte des neuen Friedenspreisträgers: Nach 80 Jahren Frieden fällt es der Nachkriegsgeneration im Westen noch immer schwer, sich auf die neue Kriegssituation einzulassen, sagt der Historiker Karl Schlögel. Dabei würde Russland nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine führen, sondern gegen den kollektiven Westen.
Der neue Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels: der Historiker und Publizist Karl Schlögel (77).
Foto: picture alliance/Friedrich Bungert/dpa
Wohin sollte sich unser Blick derzeit als Erstes wenden, wenn wir nach jener Schaltstelle suchen, an der sich möglicherweise die Zukunft unserer Welt entscheidet? Auf welches Land müsste sich der Fokus richten?
Schlögel Das ist für mich nach wie vor der Krieg in der Ukraine. Ich verfolge die Lage dort praktisch 24 Stunden am Tag und versuche so viele Nachrichten wie möglich zu bekommen – ob es nun ukrainische, russische, amerikanische oder deutsche Quellen sind. Ich versuche also, mir ein Bild vom Krieg dort zu machen. Dass gleichzeitig anderswo furchtbare Kriege stattfinden, das weiß ich wohl: Seit dem Angriff der Hamas auf Israel, seit dem Krieg in Gaza. Und es gibt so viele andere. Ich erinnere mich an eine große Sudan-Reportage von Anne Applebaum, die im vergangenen Jahr mit dem Friedenspreis geehrt wurde. Über einen Krieg jenseits unserer Aufmerksamkeit, in dem apokalyptische Dinge geschehen. Aber ich bin vollständig beschäftigt mit den Ländern, in denen ich mich am besten auskenne.
Wenn man auf die Ukraine blickt, muss man zugleich auf das westliche Europa schauen und auf seine neue Rolle, die es zu spielen hat. Wobei man zunehmend den Eindruck gewinnt, dass die Entscheidungswege viel zu lang sind und die Reaktionen oft zu spät kommen. Ist in Zeiten des Krieges nicht ein weitaus schnelleres Handeln erforderlich?
Schlögel Dieses Dilemma gibt es schon seit Beginn des Krieges. Es hat ja schon lange gedauert, die Ukraine überhaupt wahrzunehmen und die Besetzung der Krim durch russische Truppen ernst zu nehmen. Es brauchte ja schon viel Zeit, bis Europa überhaupt zur Kenntnis nahm, was da vor sich geht, und noch länger, bis man sich zu Sanktionen entschloss. Die späten und zögerlichen Entscheidungen hängen damit zusammen, dass alles, was im östlichen Europa vor sich ging, immer noch außerhalb der Wahrnehmung der Westeuropäer lag. Das waren die Spätfolgen der Ost-West-Teilung Europas, sie halten bis heute an. Und das zeigt sich erst recht in schleppenden Entscheidungsprozessen. Europa war schlecht aufgestellt für eine klare und zügige Antwort auf die Wiederkehr des Krieges, Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und das ist es auch heute noch.
Wie kann es in Europa zu schnelleren Entscheidungen kommen? Bedarf es einer neuen Institution, die vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten tätig wird?
Schlögel Europa war ja nicht auf den Ernstfall eines Angriffskrieges eingestellt. Wenn man 80 Jahre lang in einer Friedenszeit gelebt hat, und sich daran gewöhnt hat, Sicherheit und Frieden für selbstverständlich zu halten, dann ist man auf einen solch radikalen Einschnitt nicht gefasst. Die Erfahrung der Generationen, die nach dem Krieg aufgewachsen sind, wird mit einem Mal über den Haufen geworfen. Sich auf die neue Situation einzulassen, ist ein ziemlich schmerzlicher Vorgang. Das ist nicht einfach, indem man einen Schalter umlegt.
Das heißt auch, die Weltmächte USA und Russland einschätzen zu können. Ist eine Analyse dieser Akteure derzeit überhaupt möglich?
Schlögel Die russische Führung findet sich mit dem Ende des sowjetischen Imperiums nicht ab, Putins Russland ist eine revisionistische und neoimperialistische Macht. Sie zeigt das in der Entschlossenheit ihrer Kriegführung, die auf die Kapitulation und Unterwerfung der Ukraine abzielt. Da sie an der Front trotz größter eigener Opfer kaum vorankommt, der Blitzkrieg gescheitert ist, greift sie die Städte, die Zivilbevölkerung an und will deren Widerstand physisch und moralisch brechen. Das kann man jeden Tag und jede Nacht sehen. Dass es dabei nicht nur um die Ukraine geht, sondern um einen Krieg gegen den „kollektiven Westen“, wird ganz offiziell ausgesprochen. Man muss nur Putin und seinem Sprecher Peskow zuhören. Wladimir Solowjow erklärt uns jeden Abend in seiner Talkshow: Wir werden Euch, den Westen, fertigmachen. Oder der intellektuelle Kriegstreiber Sergej Karaganow, der klipp und klar dazu aufruft: Wir werden Europa das Rückgrat brechen. Nun haben wir es aber nicht mehr nur mit Putins Krieg zu tun. Die Frage ist auch, was in Amerika vor sich geht.
Diese Frage dürfte schwerer zu beantworten sein.
Schlögel Die USA sind eine stolpernde, strauchelnde, unsichere Nation, die ihren Platz in der Welt nach dem Ende des amerikanischen Jahrhunderts noch nicht gefunden hat. Was dort geschieht, sind ganz neue Erscheinungen, auf die selbst das nachdenklich selbstkritische Amerika nicht eingestellt ist. Zu begreifen, was in Amerika aktuell vor sich geht, ist ein großes Rätsel selbst für jene, die das Land gut kennen. Mich beschäftigt vor allem, wie es möglich ist, dass die Trump-Administration fast putschistisch an den traditionsreichen Institutionen vorbei – die über viele Generationen gewachsen sind – durchregiert. Die Frage ist, wo jetzt eigentlich die Sicherungen sind, auf die man bisher vertrauen konnte? Also das, wofür die amerikanische Demokratie, die westliche und die transatlantische Welt einmal gestanden haben. Ich bleibe allerdings dabei, dass Amerika mehr ist als nur das jeweilige Personal im Oval Office.
Ist das jeweilige Führungspersonal demnach nicht ganz so bedeutsam?
Schlögel Nein, im Gegenteil. Führergestalten – ob nun Putin oder Trump – spielen natürlich eine zentrale Rolle, besonders in Zeiten des Umbruchs. Man kann die Geschichte der vergangenen Jahre ohne den Aufstieg der starken Männer nicht verstehen. Es gibt keinen Putinismus ohne Putin, und es gibt kein Amerika der letzten Jahre ohne die Gestalt Trumps. Bei allem Unterschied der Systeme, die sie repräsentieren. Eine Sozial- und Geschichtswissenschaft, die sich nur noch für Strukturen und Institutionen interessiert hat, hat die manchmal ausschlaggebende Rolle des Individuums in der Geschichte unterschätzt. Hier ist ein neues Nachdenken über theoretische Probleme fällig, wenn man verstehen will, was in Russland und in Amerika vor sich geht – aber auch in unserem Land.
Sie bekommen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Zeiten eines Krieges. Eine der Grundlagen dieser Ehrung ist unter anderem die Schrift von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“. Ist dieser Wunsch von 1795 kaum mehr als eine Utopie?
Schlögel Wenn man durch die Geschichte des Friedenspreises geht, sind viele Auszeichnungen vor dem Hintergrund der Bewältigung schwieriger Situationen geschehen. Das war nach 1945 so, nämlich herauszukommen aus den Schrecken und Traumata des Zweiten Weltkrieges. Das war in der Zeit des Kalten Krieges so. Und es war nach 1989 mit dem Fall der Mauer die Aussicht, dass es tatsächlich so etwas wie einen endlich gelingenden Frieden geben würde. Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist klar, dass Friede in Europa sich nicht von selbst versteht. Ich verstehe Ort und Zeit der Verleihung des Friedenspreises als Einladung zur Verständigung darüber, was es heißt, immer aufs Neue den Frieden zu erhalten oder wieder herzustellen – gerade in gefährdeten Zeiten.
Der Friedenspreis hat aus unterschiedlichen Gründen und Motivationen immer wieder Debatten ausgelöst. Das waren dann keine Ausrutscher, sondern wichtige Anstöße in die Gesellschaft über die Preisverleihung hinaus. Würden Sie sich das auch für Ihre Auszeichnung und Rede wünschen?
Schlögel Es braucht eine offene Diskussion, die dem Ernst der Lage angemessen ist, in der über die Verteidigung der Freiheit und der Souveränität eines unabhängigen europäischen Staates gesprochen werden kann und über die Wege, die herausführen aus einem furchtbaren und zerstörerischen Krieg in einen dauerhaften Frieden. Die Frage ist nicht nur, ob man das will, sondern ob man das auch kann und dazu bereit ist, die Opfer, die damit verbunden sind, zu tragen. Dafür eine Sprache zu finden, ist eine große Herausforderung.
Sie stehen in der Nachfolge und Tradition vieler namhafter Friedenspreisträgerinnen und -preisträger. Gibt es in dieser Reihe jemanden, dem Sie sich in besonderer Weise verpflichtet fühlen?
Schlögel Einige der Preisträgerinnen und Preisträger habe ich noch persönlich gekannt: ob das nun Lew Kopelew ist, mit dem ich befreundet war, oder Claudio Magris und Swetlana Alexijewitsch, auf die ich die Laudatio in der Paulskirche halten durfte. Es ist eine beeindruckende und verpflichtende Reihe von Persönlichkeiten und Lebensschicksalen. Man kann die Friedenspreisreden fast wie eine Chronik der geistigen Situation der Zeit lesen.