Die E-Mail von Sven Giegold klingt besorgt – sehr besorgt. „Wehrt Euch gegen Reiches Angriff auf die Erneuerbaren“, schrieb der stellvertretende Grünen-Vorsitzende Mitte August an seinen Verteiler. Wirtschaftsministerin Katherina Reiche wolle privaten Solaranlagen „den Stecker ziehen“. Der von der CDU-Politikerin beauftragte Monitoringbericht zur Energiewende sei „reine Augenwischerei“, die politischen Ergebnisse stünden längst fest.
Giegold, der in der vergangenen Legislaturperiode unter dem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Staatssekretär war, schreibt derzeit häufiger solche Mails. In einer anderen kritisiert er die von Reiche geplanten Gaskraftwerke, spricht von einem „fossilen Kartell“. Eine von ihm gestartete Petition gegen Reiches Politik fand innerhalb weniger Tage mehr als 62.000 Unterstützer.
Giegold ist dieser Tage der wohl emsigste Reiche-Kritiker. Aber auch andere Grüne arbeiten sich an der neuen Hausherrin im Wirtschaftsministerium ab. Reiche mache Deutschland zu einem „fossilen Technologiemuseum“, betreibe eine „Gas-Lobby-Politik“, findet Fraktionsvize Andreas Audretsch. Als kürzlich die ersten 100 Tage der schwarz-roten Koalition vorbei waren, konstatierte Fraktionschefin Katharina Dröge: „100 Tage Klima-Rückschritt“. In sozialen Netzwerken stänkern Grünen-Anhänger gegen „Gas-Kathi“, nennen sie „fossile Eiskönigin“. Die Angst, dass die CDU-Politikerin die Arbeit des ersten grünen Wirtschaftsministers der Republik rückabwickeln könnte, ist groß. Die Grünen wollen Robert Habecks Erbe retten. Und auch seine Ehre.
„Gas-Kathi“-Schmähungen
Schon die allererste Rede von Reiche während der Amtsübergabe im Ministerium wurde in Grünen-Kreisen als Provokation empfunden. Zwar lobte die ehemalige Managerin der Eon-Tochtergesellschaft Westenergie Habeck für seine „fast übermenschliche Leistung“ in der Energiekrise. Der Rest ihrer Rede sei aber „eine Generalkritik an Robert Habeck“ gewesen, sagt Sven Giegold. „Reiches Botschaft war: Deine Wirtschafts- und Energiepolitik, lieber Vorgänger, war falsch.“ Giegold empfindet das als nicht fair. „Eine konservative Wirtschaftspolitik würde bedeuten, das Gute des Vorgängers zu behalten. Und den fachkundigen Referenten im Ministerium zuzuhören. Das macht Katherina Reiche aber viel zu wenig.“
Ursache für die aktuelle Aufregung ist eine Aussage von Reiche, in der sie die Einspeisevergütung für Strom aus privaten Solaranlagen infrage stellt. „Neue, kleine PV-Anlagen rechnen sich schon heute im Markt und bedürften keiner Förderung“, befand Reiche im Gespräch mit der „Augsburger Allgemeinen“.
Die Solarwirtschaft reagierte empört. Dass Reiche das Tempo des Erneuerbaren-Ausbaus an den Ausbau der Stromnetze anpassen will, kommt in der grünen Szene auch nicht gut an. Gleiches gilt für Reiches Plan, Gaskraftwerke mit einer Kapazität von 20 Gigawatt zu bauen und die Kosten für die Gasspeicher künftig aus dem Klima- und Transformationsfonds zu finanzieren. Nachdem Reiche auch noch öffentlich das Ziel kritisierte, dass Deutschland schon 2045 klimaneutral sein soll, sehen sich viele Grüne in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
„Reiche macht keine Politik für eine Energiewende in Bürgerhand“
Die „Gas-Kathi“-Schmähungen aus der Fangemeinde der Grünen weist Giegold ausdrücklich zurück. Seine Wortwahl, etwa das „fossile Kartell“, findet er aber nicht überzogen. „Katherina Reiche macht keine Politik für eine Energiewende in Bürgerhand, sondern eine zugunsten der etwa 860 Netzbetreiber im Land.“ Viele davon hätten in den vergangenen Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht. „Wir haben in Deutschland viel weniger digitale Stromzähler als in anderen Ländern. Die Netze sind nicht digitalisiert. Wenn das anders wäre, dann wären auch die wenigen Stunden im Jahr kein Problem, in denen zu viel Strom aus Erneuerbaren ins Netz drängt.“
Unter Ökonomen gibt es schon lange Kritik, dass die Kosten der Energiewende aus dem Ruder laufen, es zu viele Fehlanreize gibt. Beinahe 20 Milliarden Euro Fördermittel flossen 2024 in den Ausbau der Erneuerbaren. Dass Reiche Veränderungen hin zu einem marktwirtschaftlicheren Vorgehen ankündigte, wurde vielerorts begrüßt.
Allerdings gibt es auch Unverständnis über Entscheidungen wie die, Gas günstiger zu machen, nicht aber die Stromsteuer für alle zu senken. Bestätigt fühlen dürften sich die Grünen durch die hörbare Unzufriedenheit im Wirtschaftsministerium mit Reiches Amtsführung. Die Ministerin schotte sich ab, lasse kaum Rat aus der Fachebene an sich heran, heißt es. Der tosende Applaus, mit dem die Belegschaft Habeck Anfang Mai verabschiedete, hat Reiche womöglich misstrauisch gemacht. Dabei arbeiten in den Fachabteilungen auch viele, die einst von Unionsministern berufen wurden.
„Mich stört nicht, dass Reiche etwas ändern will“, betont Giegold. „Die Energiewende ist ein hochkomplexes Unterfangen, natürlich muss da immer wieder angepasst werden.“ Der Strompreis müsse „dichter an die Wahrheit ran“, auch müssten die Kosten von Solaranlagen transparenter werden. „Mich stört, was Reiche nicht sagt. Wir wollen die Erneuerbaren, wir halten an den Ausbauzielen fest: Diese Sätze, die höre ich nicht von ihr.“ Dass Reiche im Mai im Bundestag sagte, erneuerbare Energien allein könnten ein Industrieland wie Deutschland nicht zuverlässig mit Energie versorgen, findet Giegold „unhaltbar“.
In vielerlei Hinsicht führt Reiche Habecks Politik fort
Worüber die Grünen weniger sprechen: In vielerlei Hinsicht führt Reiche nur Habecks Politik fort. Auch der grüne Wirtschaftsminister sah die Notwendigkeit für den Bau von Gaskraftwerken. Habeck wollte ursprünglich sogar knapp 24 Gigawatt Kapazität – mehr als Reiche. Erst später reduzierte er die Pläne auf 12,5 Gigawatt. Habeck kämpfte für einen subventionierten Strompreis für energieintensive Industriebetriebe, Reiche hat diesen jetzt erfolgreich in Brüssel fertig verhandelt. Und auch den Bundeszuschuss zu den Netzentgelten, den Union und SPD von 2026 an gewähren wollen, sollte es eigentlich schon zu Ampelzeiten geben, hätte nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Haushaltsplanung gekippt.
Der nächste Konfliktstoff zwischen den Grünen und der CDU-Ministerin bahnt sich schon an, diesmal bei einem besonders symbolträchtigen Thema. Es geht um die „Abschaffung“ von Habecks umstrittener Reform des Gebäudeenergiegesetzes (GEG). Wie die Forderung aus dem Unions-Wahlprogramm praktisch umgesetzt werden soll, darum ringen derzeit die beteiligten Ministerien. Die CDU möchte die von Habeck eingeführte Vorgabe streichen, wonach neu eingebaute Heizungen zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien laufen müssen, wenn die kommunale Wärmeplanung abgeschlossen ist.
Als „Lex Wärmepumpe“ hat Reiche diese Regel bezeichnet. Statt Vorgaben für einzelne Heizungen könnte es künftig welche für ganze Stadtquartiere geben. Allerdings riss der Gebäudesektor schon in den vergangenen Jahren die CO2-Einsparziele aus dem Klimaschutzgesetz. Die Grünen hoffen nun auf Carsten Schneider: Der SPD-Mann im Umwelt- und Klimaministerium soll dafür sorgen, dass Habecks Politik nicht komplett beerdigt wird.