Wer sind wir? Was für ein Land wollen wir sein? Das fragte Bundeskanzler Merz am 35. Jahrestag der deutschen Einheit. Die Fragen sind alt. Vor gut 200 Jahren war „Des Deutschen Vaterland“ das wohl populärste Volkslied, entstanden unter französischer Besatzung, gerichtet auf nationale Freiheit und Einheit. Heute, im Beisein des französischen Präsidenten Macron im lange zwischen beiden Staaten umkämpften Saarland, legte Merz den Schwerpunkt auf eine kleine Staatsbürgerkunde, die leider tatsächlich bitter nötig ist.
Unter dem Banner von Recht und Freiheit
Demokratie übersetzt der Kanzler als Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst, das nicht immer gesittet zugehen muss. Vor allem seine Ausführungen zum Rechtsstaat sind – gerade in ihrer eigentlichen Selbstverständlichkeit – ein Wink mit dem Zaunpfahl, nicht nur an Trumps Amerika. Auch in Europa und in Deutschland machen sich freiheitsfeindliche Bestrebungen gerade unter dem Banner von Recht und Freiheit breit.
Allzu oft soll eine grenzenlose Freiheit nur für die eigene Meinung, Religion und Auffassung von Kunst gelten. Und nicht wenige glauben geradezu den Volkswillen zu verkörpern – übersehen dabei aber, dass sogar eine in freien Wahlen zum Ausdruck kommende große Mehrheit keine Carte blanche hat, die Grundfesten der Zivilisation einzureißen. Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz, Freiheit der Presse, Schutz des Andersdenkenden.
Kein Wunder, dass alle Feinde von Recht und Freiheit nach einem ähnlichen Drehbuch hier zuerst ansetzen und für Gleichschaltung sorgen wollen. Gut also, dass Merz den sozialen Rechtsstaat, der eine starke Wirtschaft braucht, europäisch lebt und von uns allen verteidigt werden muss, hervorgehoben hat.
Das Vaterland allerdings fehlte in des Kanzlers Aufruf, eine neue Einheit zu gestalten. Pathos und Patriotismus haben nicht nur auf der anderen Seite des Rheins eine Heimat. Das zeigt schon unsere Nationalhymne aus und für Zeiten äußerer Bedrohung und innerer Brüche: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.