Stand: 20.11.2025 06:48 Uhr
Was ging in den Köpfen der NS-Täter vor sich? Dieser Frage versuchte der Psychologe Gustave M. Gilbert beim Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg 1945 auf den Grund zu gehen.
Nürnberg, Ende September 1946: Hermann Göring sitzt in seiner Zelle im Gefängnis hinter dem Justizpalast und wartet auf das Urteil. Der einstige Reichsmarschall, Luftfahrtminister und die Nummer zwei nach Hitler macht sich keine Illusionen: Am 1. Oktober wird das internationale Militärtribunal über ihn und 20 andere Vertreter der NS-Elite richten.
An diesem Abend, wie an vielen anderen der vergangenen Monate, hat Göring Besuch: Der 35-jährige Gustave M. Gilbert sitzt ihm gegenüber – Jude, Dolmetscher, Psychologe, in der Uniform eines Offiziers der US-Armee. Vom ersten Prozesstag am 20. November 1945 an hatte Gilbert zehn Monate lang die Angeklagten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses beobachtet, sie psychologischen Tests unterzogen und viel mit ihnen geredet: mit Männern wie Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Albert Speer, Karl Dönitz, Alfred Jodl, Wilhelm Keitel, Julius Streicher und Hans Frank.
Von der Anklage bis zur Vollstreckung der Urteile hatte der deutsch sprechende Gilbert zu jeder Zeit freien Zutritt zu den Gefangenen. „Gilbert hatte gewissermaßen durch die Sprache einen unmittelbaren Zugang zu den Angeklagten. Er konnte sich ungefiltert mit ihnen unterhalten – und das war ein Riesenvorteil“, sagt Historiker Philipp Rauh vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Technischen Universität München im BR-Interview.
„Der geeignete Mann am geeigneten Ort“
Kaum jemand ist diesen Männern nähergekommen, konnte tiefer in ihre Köpfe blicken als Gustave M. Gilbert. Gilbert wurde 1911 in New York City als Sohn österreichisch-jüdischer Einwanderer geboren. Er studierte erst Germanistik, dann Psychologie, und promovierte 1939 an der Columbia University.
Mit seinen ausgezeichneten Deutschkenntnissen und seiner psychologischen Expertise war er im Zweiten Weltkrieg für den US-Geheimdienst in Europa im Einsatz. In Nürnberg sollte er eigentlich für den Dolmetscher des Gefängniskommandanten einspringen, wurde aber auch zum Gerichtspsychologen für die Dauer des Prozesses ernannt – eine Idealbesetzung, sagt Historiker Alexander Korb, früherer Leiter des Memoriums „Nürnberger Prozesse“: „Er hatte eine Top-Ausbildung, war topqualifiziert, jung, mehrsprachig und deshalb der geeignete Mann am geeigneten Ort.“
Erstaunlich ehrlicher Austausch
Um seine Gesprächspartner nicht einzuschüchtern, verzichtete Gilbert auf paralleles Mitschreiben und fertigte danach Gedächtnisprotokolle an. Seine Methode war die der einfachen, zwanglosen Unterhaltung.
Wie man in Gilberts „Nürnberger Tagebuch“ lesen kann, offenbarten sich ihm die Gefangenen oft erstaunlich ehrlich. Nicht selten ließen sie die Maske fallen, die sie sich für die Verhandlung zurechtgelegt hatten: politische Rechtfertigung, Verharmlosung und zynische oder resignierte Betrachtungen.
Wie kamen überzeugte Nationalsozialisten dazu, sich freimütig einem Mann wie Gustave M. Gilbert zu öffnen? Historiker Alexander Korb macht die äußeren Lebensumstände der Gefangenen dafür verantwortlich: isoliert in kleinen kalten Zellen, strenges Sprechverbot. Kontakte zu Mitgefangenen nur beim Mittagessen und in Prozesspausen. Die Angeklagten waren froh, sich überhaupt mit jemandem unterhalten zu können.
Diese Offenheit war aus ihrer Sicht ein zweischneidiges Schwert, sagt Alexander Korb dem BR: „Die Psychiater haben ja alles weiterberichtet, alles aufgeschrieben, alles dem Gericht erzählt. Es waren keine Freunde der Angeklagten.“
Eine dunkle Psychopathologie
Gilbert machte mit den Männern auch die damals üblichen Tests und psychologischen Untersuchungen. Intelligenztests bescheinigten fast allen Angeklagten überdurchschnittliche Werte. Gilbert hatte es demnach mit hochintelligenten Charakteren zu tun, die wussten, was sie taten.
„Das hat dem Bild widersprochen, dass das irgendwelche tumben, durchgeknallten Nationalsozialisten gewesen wären. Und das hat für Verwunderung gesorgt“, sagt Historiker Philipp Rauh. Aus Rohrschach-Tests, scheinbar wahllosen Tintenklecksbildern, die es zu deuten galt, schloss Gilbert bei den meisten der Kandidaten auf mehr oder weniger starke Persönlichkeitsstörungen. Allerdings war dieser Test sehr von der subjektiven Interpretation abhängig und hielt späteren wissenschaftlichen Überprüfungen nicht immer stand.
Die spannendste Phase für Gilbert war der Prozess selbst – wie sich die Angeklagten vor Gericht verhielten und reagierten, als sie mit Aussagen und Beweisen konfrontiert wurden.
„Gilbert ging davon aus, dass sie nicht geisteskrank sind, aber dass es eine spezielle, sehr, sehr dunkle Psychopathologie bei diesen Nationalsozialisten gibt“, sagt der Medizinhistoriker Philipp Rauh. Diese dunkle Seite in der Psyche der Täter sah Gilbert durch den NS-Staat gefördert. Gustave M. Gilbert besuchte die Gefangenen auch noch nach der Urteilsverkündung: zwölf Todesurteile, sieben Haftstrafen von zehn Jahren bis Lebenslänglich, drei Freisprüche. Hitlers Sekretär Martin Bormann wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Hermann Göring entzog sich seiner Hinrichtung durch den Strang durch Selbstmord mit Gift.
Berichte auch vom Eichmann-Prozess
Nach dem Prozess von Nürnberg kehrte Gilbert in die USA zurück. Seine Aufzeichnungen veröffentlichte er 1947 im „Nürnberger Tagebuch“. Mit der Psyche der NS-Täter beschäftigte er sich weiter. Als Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem der Prozess gemacht wurde, berichtete Gilbert dem Gericht von seinen Erkenntnissen in Nürnberg.
Zeitlebens blieb Gustave M. Gilbert ein gefragter Experte für die Psychologie von Diktatoren und totalitären Regimen. Er starb 1977 in New York.
Mehr zum Thema im Podcast „Der Nürnberger Prozess – Die Täter und ihr Psychologe“ bei „Alles Geschichte“ in der ARD Audiothek und im Dokudrama „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ in der ARD Mediathek.









