Am 7. Mai 1945 begab sich mit Hermann Göring der prominenteste noch lebende Nationalsozialist in amerikanische Kriegsgefangenschaft. „Wenigstens zwölf Jahre anständig gelebt“, soll er dabei gesagt haben. Auch wenn der anekdotisch überlieferte Satz so nie gefallen sein sollte, fasst er doch das Selbstverständnis der wohl schillerndsten Figur aus der Führungsriege der NS-Diktatur gut zusammen.
Gerade sein exzessiver Lebensstil und sein operettenhaftes Auftreten haben dazu geführt, dass Göring trotz seiner langjährigen Rolle als Stellvertreter des Führers vielfach die ideologische Festigung und Ernsthaftigkeit abgesprochen wurde. Trotz seiner Beteiligung an allen Schlüsselentscheidungen der NS-Diktatur, von der Vorbereitung des deutschen Angriffskrieges bis hin zur radikalen Verfolgung von politischen Gegnern und Juden, ist Göring lange Zeit nicht in einem Atemzug mit oberflächlich sehr viel radikaler wirkenden Fanatikern wie Himmler oder Goebbels genannt worden.
Vielleicht liegt hierin auch der Grund, warum die letzte wissenschaftliche Göring-Biographie, jene von Richard Overy, vor mehr als vierzig Jahren vorgelegt wurde. Eine auf dem heutigen Stand der Forschung geschriebene Biographie des „Reichsmarschalls“, wie sie nun der Wirtschaftsjournalist Andreas Molitor verfasst hat, ist allein aus diesem Grund eine willkommene Ergänzung.
Die Radikalisierungserfahrungen seiner Generation
Molitor erzählt schwungvoll das Leben eines skrupellos-machthungrigen Aufsteigers, der seine Gegner kaltblütig ausschaltete, die „Entjudung der deutschen Wirtschaft“ als Überzeugungstäter betrieb und mit der Beauftragung Reinhard Heydrichs, eine „Endlösung der Judenfrage“ herbeizuführen, eine zentrale Rolle in der Entfesselung des Holocausts spielte.

Das extrem ausgeprägte Macht- und Geltungsbedürfnis des 1893 in Rosenheim geborenen Göring sieht Molitor bereits in dessen liebloser Kindheit angelegt. Schon mit zwölf Jahren wurde der intelligente, aber auch aufmüpfige Junge von den Eltern auf die Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde abgeschoben. Sein Vater, vormals Reichskommissar der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, meinte, der junge Hermann könne dort gar nicht „straff genug angefasst werden“. Tatsächlich blühte Göring in der strengen Welt der preußischen Offiziersschmiede auf. 1913 bestand er das Abitur, im Ersten Weltkriegs wurde der junge Jagdflieger mit dem höchsten deutschen Orden, dem Pour le Mérite, ausgezeichnet.
Molitor beschreibt kenntnisreich, wie Göring die Radikalisierungserfahrungen seiner Generation teilte: den verlorenen Krieg, die Revolution von 1918 und die wirtschaftlichen Verwerfungen der Nachkriegszeit. Ein radikaler Nationalist und glühender Antisemit war Göring bereits, als er Hitler 1922 zum ersten Mal begegnete und sich ihm loyal verschrieb. Unter den zahlreichen frühen Anhängern Hitlers besaß er den größten Machtinstinkt, eine „Qualität“, die nach 1933 zu einem beispiellosen Aufstieg führen sollte. Als preußischer Ministerpräsident, Beauftragter für den Vierjahresplan, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Hitlers Stellvertreter beherrschte er die Kunst der Ämterhäufung wie kaum ein Zweiter im NS-Staat.
Kunstraub, Jagdvergnügen, Luxus
Obwohl Göring nach Kriegsausbruch gerade in der Rolle als Chef der Luftwaffe versagte und seine Jägerverbände den britischen und amerikanischen Bombern wenig entgegensetzen konnten, hielt Hitler lange zu ihm. Noch im Sommer 1943, unmittelbar nach der schweren Bombardierung Hamburgs, sagte er: „Einen besseren Ratgeber in Krisenzeiten kann man nicht haben als den Reichsmarschall. (…) Ich habe immer gemerkt, wenn es auf Biegen und Brechen kommt, ist er der rücksichtslose, eisenharte Mensch.“
Dennoch schwand Görings Macht im Kriegsverlauf zunehmend dahin – zunächst langsam, dann immer schneller. Schon die verlorene Luftschlacht um England kratzte an seinem Nimbus, das Scheitern der vollmundig angekündigten Luftbrücke nach Stalingrad beschleunigte den Niedergang. Das Kommando über die Kriegswirtschaft hatte Hitler Göring bereits 1940 entzogen, zwei Jahre später degradierte Hitler seinen Reichsmarschall weiter, als er dem linientreuen Bürokraten Fritz Sauckel die Kontrolle über Millionen von Zwangsarbeitern übertrug.
Je tiefer er in Hitlers Gunst sank, desto ausgeprägter wurde das, was Molitor als zweites Charaktermerkmal Görings beschreibt: seine Neigung zum Exzess, die sich stark vom puritanischen Selbstbild anderer NS-Führer unterschied. Auf seinem Landsitz Carinhall in der Schorfheide widmete er sich ungehemmt seinen Leidenschaften: dem Kunstraub, dem Jagdvergnügen und dekadentem Luxus. Noch im Januar 1945 bestand er trotz Mangelwirtschaft auf einer „standesgemäßen“ Geburtstagsfeier mit 150 Gästen in Carinhall. 280 Flaschen teurer Wein und Champagner, dazu 85 Flaschen Cognac und 500 Zigarren wurden herbeigeschafft.
Anständig und selbstbestimmt?
Kurze Zeit später ließ Göring Teile der im Laufe des Krieges aus ganz Europa angehäuften Raubkunst evakuieren. Im Februar und März 1945 verließen mehrere Züge mit insgesamt tausend Gemälden und Skulpturen Görings Residenz in Richtung Berchtesgaden, wo er die letzten Kriegswochen verbrachte und vollends in Ungnade fiel. Von Hitler des Verrats bezichtigt, wurde Göring aus der NSDAP ausgeschlossen.
Molitor beschreibt diese Lebensabschnitte kenntnisreich und mit einem geschulten Auge für Details und Zitate. Auf breiter Quellenbasis und in guter Sachkenntnis der neuesten Fachliteratur ist hier eine gekonnt erzählte und leicht zugängliche Biographie entstanden. Besonders gut gelingt es dem Autor, die Stimmung beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal einzufangen und die Rededuelle zwischen dem angriffslustig auftretenden Göring und dem amerikanischen Chefankläger Robert H. Jackson zu sezieren. Göring, selbstgefällig mit Sonnenbrille auf der Anklagebank sitzend, habe die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit genossen. In der Sache uneinsichtig, habe er die Verantwortung für die Verbrechen des Regimes auf andere, mittlerweile verstorbene NS-Spitzenfunktionäre wie Goebbels und Himmler geschoben und damit nicht ohne Erfolg sein Bild in der Geschichte inszenieren wollen.
Als er am 1. Oktober 1946 in allen Anklagepunkten für schuldig befunden und zum Tode durch den Strang verurteilt wurde, akzeptierte Göring das Urteil, nicht aber die Hinrichtungsart. Wie er in mehreren Abschiedsbriefen erklärte, habe er erschossen werden wollen wie ein Soldat, nicht gehängt wie ein gemeiner Pferdedieb. Als er am Abend vor der Vollstreckung mit einer in die Zelle geschmuggelten Zyankali-Kapsel Selbstmord beging, entbehrte das nicht jener Logik Görings, die Molitor gut herausarbeitet: Durch seinen Freitod, so meinte er, werde er genauso „anständig“ und selbstbestimmt sterben, wie er gelebt hatte.
Andreas Molitor: „Hermann Göring“. Macht und Exzess. Eine Biografie. C.H. Beck Verlag, München 2025. 411 S., Abb., geb., 32,– €.