Michael Roth attestiert seiner SPD nach seinem Ausstieg aus der Politik einen katastrophalen Zustand: Der Sozialdemokratie sei die „Fühlung“ zu den Bürgern abhandengekommen. Und er gibt Einblick in Zumutungen des politischen Betriebs, die ihn an seine seelischen Grenzen gebracht hätten.
Als SPD-Politiker hat Michael Roth stets für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine geworben und wurde damit einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Von 2013 bis 2021 war Roth Staatsminister für Europa im Außenministerium. Bis März 2025 war er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Nun ist der 55-Jährige freiwillig aus der Politik ausgeschieden und hat ein Buch über sein Leben geschrieben.
WELT: Herr Roth, Sie haben mehr als 25 Jahre Politik hinter sich und sieben Legislaturperioden als direkt gewählter Abgeordneter. In diesem Jahr sind Sie freiwillig aus dem Bundestag ausgeschieden. Wie schaffen Sie den Übergang in ein politikfreies Leben?
Michael Roth: Es ist einfacher, als viele denken. Ich habe ja selbstbestimmt eine Entscheidung getroffen, ohne Druck von außen. Ich hatte am Ende einfach genug von der Politik, so wie sie heute ist. Das unterscheidet mich von vielen, die vom Wähler oder von der Partei nach Hause geschickt werden, obwohl sie eigentlich weitermachen wollten. Bei mir ist es Gott sei Dank anders.
WELT: Wodurch ist aus Ihrer Sicht die Politik heute charakterisiert?
Roth: Politik droht leider immer mehr zu Aktivismus zu werden. Immer weniger hat sie das große Ganze im Blick, Kompromisse fallen schwer. Diese Hysterie und dieser zunehmend aggressive Ton in der Politik, aber auch in Teilen der Medien sind furchtbar. Wir erleben ja überall Widersprüche und Dilemmata: ob es um Israel und den Kampf gegen Antisemitismus geht, den Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine, Klimaschutz oder soziale Fragen. Aber die müssen wir aussprechen und aushalten.
Die Sehnsucht nach Disruption, nach Gut und Böse, nach einfachen Lösungen wird größer. Ich kann das bei der verunsicherten Bevölkerung noch verstehen – aber nicht bei Politikern. Denn das ist der Anfang vom Ende der liberalen Demokratie. Auch progressiven Parteien fällt es zunehmend schwerer, mit dieser Komplexität umzugehen.
WELT: In Ihrem neuen, autobiografischen Buch „Zonen der Angst“ schreiben Sie, Angst gehöre zu den zentralen seelischen Themen Ihres Lebens. Wie kommt es, dass jemand mit einer solchen Veranlagung ausgerechnet den Weg in die Politik gesucht hat?
Roth: Das Thema, das mich mein Leben lang begleitet, ist Aufstieg durch Bildung und Leistung. Meine Oma, die Schule und auch die Politik haben mich gerettet. Ihnen verdanke ich den Weg raus aus einer frustrierenden Kindheit und Jugend voller Angst und Scham. Schule und Politik gaben mir eine Chance, meine Talente auszuprobieren. Ich war als Jugendlicher schüchtern und introvertiert. Aus mir ist etwas geworden.
Dafür werde ich ewig dankbar sein – einigen Lehrerinnen und Lehrern, aber vor allem den Sozialdemokraten meiner nordhessischen Heimat, den Bergleuten, den Menschen meiner Heimat, die mir sagten, „so einen wie dich könnten wir bei uns in der Partei gebrauchen“. Bis heute bin ich leider eine Ausnahme. Deine Herkunft entscheidet, nicht dein Talent. Das ist bitter.
WELT: Es gab auch andere Phasen, von denen Sie in Ihrem Buch erzählen. Sie sind aufgrund von Überlastung und Ihrer depressiven Veranlagung mehrmals zusammengebrochen. Bereuen Sie es, den Beruf des Politikers ergriffen zu haben, der einen eigentlich nie in Ruhe lässt?
Roth: Ich bereue nicht, in die Politik gegangen zu sein. Es wäre ja schrecklich, wenn am Ende nur die Harten, die Dickfelligen, die Rabauken in der Politik übrig bleiben. Ich bin anfangs auf Unverständnis gestoßen, als ich offen über meine psychische Erkrankung und meine Probleme mit dem politischen Betrieb gesprochen habe. Nicht nur in der Partei, auch im weiteren Freundeskreis. „Aber so ist eben Politik, du musst kämpfen, nimm die Kritik doch nicht persönlich“, hieß es dann oft. Das habe ich aber dann nicht mehr geschafft.
WELT: Trotzdem sind Sie viele Jahre geblieben. Ich frage mal anders: Wie süchtig macht Politik?
Roth: Über die Droge Politik haben ja bereits andere zutreffend geschrieben. Man ist immer gefragt, immer gefordert, 24 Stunden am Tag, wie ein Junkie. Das hat sich durch die sozialen Medien deutlich verstärkt. Früher musste man sich arg anstrengen, um in eine Qualitätszeitung zu kommen oder mal im Fernsehen aufzutauchen. Heute schafft sich jeder Abgeordnete seine eigene Öffentlichkeit. Dort macht er Storys, wird von seinen eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pseudomäßig befragt, so als hätte jeder sein eigenes Publikationsorgan. Es gibt ja auch Kollegen, die Zehntausende von Leuten direkt erreichen, also mehr als manche Lokalzeitungen. Dadurch steigt allerdings auch die Fehlerdichte.
WELT: Sie erzählen sehr persönlich aus Ihrem Leben, von Ihrem alkoholabhängigen Vater, der Repression und Willkür in Ihrem Elternhaus, Ihren Minderwertigkeitsgefühlen als Arbeiterkind. Wer sich derart öffnet, macht sich verwundbar. Macht Ihnen das gar nicht Angst?
Roth: Bevor ich das Buch geschrieben habe, habe ich noch nie, noch nicht einmal mit meinem Mann, so offen über meine Kindheit und Jugend gesprochen. Ich mute meiner Familie, meinen Freunden und Freundinnen eine Menge zu mit dem Buch. Manche meinen vielleicht, die böse SPD und die hartleibige Politik hätten mich krank gemacht. Tatsächlich hat die Politik vieles verschärft und beschleunigt. Aber es gibt tiefere Ursachen für mein Leiden.
Die Wurzeln liegen in meiner Kindheit. Ich habe das mein ganzes Leben lang verschwiegen, bis ich im Januar 2022 eine Therapie begonnen habe. Mich erstmals zu öffnen, war ein sehr schmerzhafter Prozess. Ich wollte ein wahrhaftiges Buch schreiben. Deshalb konnte ich dieses düstere Kapitel meines Lebens nicht aussparen. Dass ich mit dem Ärger in meiner Partei und in der Politik nicht so umgegangen bin wie andere, die krisenfester und gestählter sind als ich, hatte ja einen Grund. Und diesen Grund musste ich erzählen. Einfach war das allerdings nicht.
WELT: Sie berichten auch von inneren und äußeren Konflikten, die Sie aufgrund Ihrer Homosexualität hatten. In der nordhessischen Provinz Heringen, wo Sie aufgewachsen sind, wurde das in den 70er- und 80er-Jahren kaum toleriert. Inwieweit hat diese Erfahrung Ihr späteres politisches Denken und Handeln geprägt?
Roth: Auch über meine sexuelle Identität sprach ich lange überhaupt nicht. Selbst bei meinem ersten Wahlkampf nicht. Erst als mein Mann in mein Leben trat, war mir klar: Da gibt es nichts zu verschweigen. Ich stieß auf viel Verständnis.
Als wir kirchlich heirateten, hat mich etwas besonders berührt. In meiner Heimat bin ich Mitglied des Bergmannsvereins. Als Mitglied hat man zwei Privilegien: Erstens stehen die Bergkameraden Spalier bei der Hochzeit. Und zweitens tragen sie einen zu Grabe. Der Vorsitzende des Bergmannsvereins ließ mich über Freunde fragen, ob ich zu meiner Hochzeit auch bereit wäre für so ein Spalier. Ich war sprachlos. Als diese wackeren Männer und Frauen, die wahrscheinlich mit Schwulsein nicht viel zu tun haben und nicht unbedingt wissen, was LGBTQ+ ist, vor der Kirche standen und uns die Ehre erwiesen, da dachte ich, jetzt ist ganz viel erreicht.
WELT: Sie wissen, was es bedeutet, in einem Arbeiterhaushalt aufzuwachsen. Umso größer war Ihre Abneigung gegen marxistische Aktivisten an der Universität, die vom proletarischen Dasein reden, ohne es selbst zu kennen. Ist das bis heute das Kernproblem der SPD – dass sie die Fühlung zur Arbeiterschaft verloren hat, in deren Namen sie zu sprechen vorgibt?
Roth: Diejenigen, die hart arbeiten und permanent gestresst und gefordert sind, fühlen sich ungerecht behandelt und nicht mehr verstanden. Gerade die müssen wir aber unterstützen. Da reichen diese Sonntagsreden und Wohlfühlparolen der SPD längst nicht mehr aus. Die Zeiten haben sich allerdings auch geändert. Ein Genosse meines Wahlkreises trat wegen Hartz IV aus der SPD aus, weil er die Sozialreform zu hart fand. Derselbe beklagt sich nun über das zu hohe Bürgergeld, weil es seiner Meinung nach den Anreiz senkt, zu arbeiten.
Heute geht es also um etwas Anderes: Werde ich als arbeitender Mensch von der Politik wertgeschätzt, haben meine Kinder die Chance auf ein gutes Leben, bleibt mir am Monatsende genug übrig? In der SPD haben wir offenkundig den Zugang zu diesen Menschen weitgehend verloren. Die SPD als einstige Arbeiterpartei wird von so wenigen Arbeiterinnen und Arbeitern gewählt wie noch nie. Eine Katastrophe! Die Fühlung zu den Leuten ist bei einer Reihe von Politikern individuell noch da, aber die SPD als Kollektiv verkörpert das nicht mehr.
WELT: Sie schreiben, trotz Ihrer späteren Bewunderung für Olaf Scholz sei er Ihnen zunächst als „Großkotz“ aufgefallen, das war 1998. Hat sich Ihr erster Eindruck in seiner Zeit als Kanzler bestätigt?
Roth: Nein. Ich habe Olaf Scholz immer zugutegehalten, dass wir einen offenen und respektvollen Gesprächskanal hatten – auch als er Kanzler war. Als ich dafür eintrat, die militärische Unterstützung für die Ukraine auszuweiten und zu beschleunigen, hörte er mir in den Gremien aufmerksam zu. Damit unterschied er sich wohltuend von anderen in der Partei.
WELT: Sie hatten Scholz nie im Verdacht, ein Putin-Versteher zu sein; sein Blick auf Russlands Präsident sei „nüchtern und kalt“ gewesen. Trotzdem haben Sie den früheren Kanzler für seine Ukraine-Politik scharf kritisiert. Wie passt das zusammen?
Roth: Ich kann ja nicht dafür werben, Widersprüche auszuhalten, wenn ich es nicht auch anderen Menschen zugestehe. Ich habe mich immer darum bemüht, diesen harten Konflikt an der Sache orientiert auszutragen und nicht zu personalisieren. Anders als andere in der SPD und unserer Gesellschaft hatte Scholz kein naives Russland-Bild. Aber ich hätte mir mehr Mut und langen Atem gewünscht, aus seiner historischen Rede zur „Zeitenwende“ auch Konsequenzen zu ziehen. In seiner Kommunikation ist Scholz leider eher zu einem Angstverstärker geworden, nicht zu einem Kanzler, der den Menschen Orientierung gibt und ihnen Ängste nimmt.
WELT: Es gibt eine Leerstelle in Ihrem Buch: Viele Menschen in Europa haben Angst, der Krieg in der Ukraine könnte eskalieren, wenn der Westen dem Land weiterhin Waffen liefert. Auch hier geht es um Ängste – haben Sie dafür kein Verständnis?
Roth: Das verstehe ich sehr gut. Wenn die Politik aber vorgibt, aus Rücksicht auf die Bevölkerung nicht mehr für die Ukraine tun zu wollen, halte ich das für falsch. Es geht ja um unser nationales und europäisches Interesse, dass der russische Imperialismus gestoppt wird. Der Krieg ist ja nicht durch uns eskaliert worden, sondern allein durch Russland. Wir sind aus dieser Defensive, in die uns Putin immer wieder hineingetrieben hat, nie herausgekommen. Wir sind oft einen mutigen Schritt vorangegangen, aber dann auch wieder zwei Schritte zurück. Das hat die Bürger total verunsichert.
Im Wahlkampf konnten wir niemanden richtig zufriedenstellen. Die einen wollten überhaupt keine militärische Unterstützung mehr. Die haben aber AfD, Linkspartei oder BSW gewählt. Und die, die für mehr Unterstützung für die Ukraine eintraten, fühlten sich bei den Grünen oder der Union besser aufgehoben.
WELT: Sie schreiben über sich selbst: „Der eine Michael Roth wollte raus aus der Politik. Gleichzeitig war der andere Michael Roth aber der politische Missionar geworden.“ Wo finden Sie jetzt Raum für Ihren missionarischen Drang?
Roth: Ich würde gern mehr schreiben, meine Erfahrungen aus der Politik weitergeben, meinen Themen treu bleiben. In welcher Weise ich das tun kann, ist noch offen. Ich habe mir dieses Jahr Zeit genommen, um Abstand zu gewinnen. Ich wollte ganz bewusst nicht mit einem unterschriebenen Arbeitsvertrag aus dem Bundestag aussteigen. Ich öffne ein neues Kapitel in meinem Leben. Und ich habe keine Angst davor.
Politikredakteurin Hannah Bethke ist bei WELT zuständig für die SPD und innenpolitische Debatten.