
Dabei könnte man den Versuch einer Lobpreisung des Freistaats bewenden lassen, aber Grabmeiers Weisheit bedarf der Konkretisierung. Leider driften Elogen auf die eigene Heimat meistens ins Peinliche ab. „Bayern ist das schönste Land der Welt!“, floskelt Ministerpräsident Markus Söder bei jeder Gelegenheit. Dagegen kann man einen Ausspruch von Winfried Kretschmann, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, ins Feld führen: „Morgens sind sie obrigkeitsgläubig, abends anarchistisch, dann kommt noch der Ludwig II. dazu und die ganze Folklore. Im Ergebnis prahlen die Bayern immer ein wenig.“
Intellektuelle und solche, die sich dafür halten, äußern seit jeher bevorzugt Ambivalenzen oder Hassgefühle in Hinblick auf Bayern. Der Münchner Schriftsteller Lion Feuchtwanger lästerte vor hundert Jahren: „Ist er nicht großartig in seiner Ich-Beschränktheit, dieser Bewohner der bayrischen Hochebene? Wie er seine Fehler als Stammeseigentümlichkeiten glorifiziert.“ Feuchtwanger reihte sich damit in die Tradition der Bayern-Basher ein, die so alt ist wie das Land selbst. Venantius Fortunatus, der Bischof von Poitiers, beschrieb schon im Jahr 570 die Bajuwaren als wegelagernde Grobiane und setzte damit den Ton für die nächsten 1500 Jahre. Der Alte Fritz befand im 18. Jahrhundert, Bayern sei „das fruchtbarste Land Deutschlands, und das mit dem geringsten Geist“. Ein „irdisches Paradies, bewohnt von wilden Tieren“.
Auf die große Zahl der Bayernhasser darf das Land durchaus stolz sein, denn es zieht einen wesentlichen Teil seines Selbstbewusstseins daraus, dass sich der Rest Deutschlands an ihm abarbeitet. Anders zum Beispiel als an Rheinland-Pfalz, zu dem einem nicht wirklich viel Schmäh einfällt. „In welchem Bundesland wohnen die unsympathischsten Menschen?“, wollte ein Umfrageinstitut 2015 wissen. Platz eins ging, na klar, an Bayern. Und in welchem Bundesland wohnen die sympathischsten Menschen? Auch hier Platz eins für die Bayern. Ein bekannter Landeshistoriker fasste sein Bayernwissen einmal so zusammen: Der Freistaat sei im Kern genial vermarktete Mittelmäßigkeit.
Wenn man seit 39 Jahren als Journalist fast ausschließlich über Bayern schreibt, fragt man sich gelegentlich, ob man seine Zeit nicht verplempert hat. Man hätte ja zum Beispiel mal nach Südamerika wechseln können oder wenigstens nach Berlin oder Brüssel. Stattdessen findet man sich an einem Abend im Jahr 2025 in Ronsberg bei der Bayerischen Meisterschaft der Schnupfer wieder, wo einem der Vereinsvorsitzende erklärt, was eine Siegernase ausmacht. Das klingt nicht nach einer steilen Berufskarriere, vor allem wenn man bedenkt, dass einer der ersten Termine 1986 das Hunderennen in Großköchelham war.

Dazwischen liegen mehrere Hunderttausend Autokilometer und schätzungsweise 8000 Zeitungsartikel. Freunde, aber auch Leser schließen daraus irrtümlich, dass man eine Ahnung von Bayern habe. Die Antwort lautet: Nein. Als Journalist zieht man vielmehr endlos Stichproben der Realität, einen guten Teil vergisst man bald wieder, aber mit den Jahren formt sich daraus immerhin ein Bild von Bayern, das eher einer Patchworkdecke aus Anekdoten gleicht, als einer topografischen Landkarte.
Ja klar, oben wohnen die Franken, unten die Altbayern und links hängen die Schwaben dran. Auch wenn sie einander gerne piesacken, so verbindet die Regionen doch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich aus der gemeinsamen Abneigung gegen Großdeutschtümelei und Zentralismus speist. Alleine schon dieser widerständige Charakter lässt Bayern als sympathisch erscheinen. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren im Freistaat aufwuchs, der assoziierte mit dem Wort Deutschland vor allem den Zweiten Weltkrieg. Die Bundesrepublik war eher eine nüchterne Einrichtung. Niemand wäre auf die Idee gekommen, eine schwarz-rot-goldene Flagge in der Garageneinfahrt zu hissen. Der bayerische Patriotismus mit einem verträumten König als Heiligenfigur hatte hingegen die Nazizeit einigermaßen unbeschädigt überstanden. Die Erzählung vom gemütlichen Bayernland mag eine Selbsttäuschung gewesen sein, zumal Adolf Hitler seine Laufbahn in München begann, aber sie war und ist eine Selbsttäuschung, der man gerne anhängt.

Wie tief Altbayern und der Katholizismus einen selbst geprägt haben, spürt man erst, wenn man in anderen Teilen Deutschlands unterwegs ist und als Fremder wahrgenommen wird. Nicht nur, weil man sich durch das rollende R sofort verrät oder einem in Anklam ein „Grüß Gott“ herausrutscht, was dort bereits als Provokation gilt. Es ist die sehr bürgerliche Weltsicht, die man mit sich trägt, wonach alles und jeder seinen Platz hat, aber zugleich Verantwortung fürs Gemeinwesen übernehmen muss, vorzugsweise in einem Verein oder sonstigem Ehrenamt. Deutschland könnte anderswo ruhig ein bisschen mehr davon vertragen.
Fährt man dann heim nach Bayern, findet man ein Land vor, das auf putzige Weise gleich einer Theaterbühne mit allerlei Requisiten und Schauspielern ausgestattet ist. Die Zugspitze zählt da genauso dazu wie die CSU, die Bayreuther Festspiele oder der alte Balkongrantler Franz Xaver Kroetz und Neuschwanstein. Und ja, bei offiziellen Anlässen begrüßt Landtagspräsidentin Ilse Aigner stets seine „Königliche Hoheit“, die heimliche Nummer eins im Staat: Franz Herzog von Bayern, den Chef des Hauses Wittelsbach. Er gehört wie der Kabarettist Gerhard Polt zu den wenigen Menschen, die in Bayern gleichsam über den Wassern schweben.
Mit seiner Noblesse, seiner Bescheidenheit und Weltläufigkeit würde Franz von Bayern auch einen guten König abgeben, was man nicht von allen seinen Vorfahren behaupten kann. Auf ihrer Homepage haben die Wittelsbacher übrigens den interessanten Hinweis versteckt, dass der letzte König Ludwig III. im November 1918 nicht abgedankt, sondern Beamte und Soldaten lediglich vom Treueid entbunden habe. Die Ausrufung der Monarchie scheint dennoch unwahrscheinlich, obwohl nicht nur Trachtler ein Spalier bilden, wenn S.K.H. mit seinem Lebenspartner in der Öffentlichkeit auftritt. Zum 90. Geburtstag vor zwei Jahren hat Franz offiziell verkündet, was eh schon alle wussten: dass er nämlich schwul sei. Sein Ansehen wuchs dadurch nur weiter.
Mit den gängigen Kategorien von links und rechts kommt man freilich nicht weiter, wenn man dieses merkwürdige Gebilde namens Bayern ergründen will. Dann muss man das weite Land zwischen den Metropolen erforschen, das den Großteil des Freistaats ausmacht und die buntesten Flicken auf der Patchworkdecke bildet. Hier trifft man immer noch Menschen, die sich selbst einen Reim aufs Leben machen und nicht von der Gleichmacherei des Internets erfasst wurden. Begegnungen, die mal absurd, mal komisch, aber oft auch erhellend sind.
So entspricht Bayern eben vielen Klischees, aber auch ihrem Gegenteil. Vor allem norddeutsche Medien wirken mit Differenzierungen oft überfordert, sie pflegen lieber das schlichte Ressentiment vom wirtschaftlich starken, aber reaktionären Separatistenstaat, in dem die Menschen so seltsame Begriffe wie „Bub“ und „Semmel“ benutzen und schlimmstenfalls „der Butter“ sagen. Als eine Praktikantin in der SZ-Bayernredaktion nach ihrem Vorwissen über den Freistaat gefragt wurde, wusste sie viel über braune Netzwerke zu berichten. Ihr Fahrrad hatte sie daheim gelassen, weil es in München, wie sie angenommen hatte, gebirgig sei.
An einem kalten Dezembermorgen beobachtete der SZ-Reporter einmal die Arbeit in einem oberbayerischen Sägewerk. An der Wand hingen Pin-up-Fotos und das Wahlplakat des Chefs, der für die Bayernpartei kandidiert hatte. Am Sägegatter hantierten zwei Arbeiter, ein Kroate und ein Asylbewerber aus Afghanistan. Der Kroate sagte dem Afghanen: „Brauch i Abstandseisen, aber ein bissi klein.“ Der Afghane zuckte nur mit den Schultern, weil er nach zwei Jahren immer noch kein Wort Deutsch sprach.

Irgendwie schafften es die beiden aber, die Maschine einzurichten. Der Chef verfolgte das Treiben mit größter Gleichmut und erzählte von seinem langjährigen Vorarbeiter. Dieser sei bei ihm vorstellig geworden und habe verlangt, den Afghanen rauszuschmeißen, weil er mit einem Moslem nicht zusammenarbeite. Der Chef gab ihm nach eigenem Bekunden folgenden Satz zurück: „I schmeiß jetzt oan raus, und zwar di, weil wir mit dem Zeigl do gar ned ofangan.“
Solche Sätze bleiben in Erinnerung, während man Regierungserklärungen bald vergessen hat. Oder neulich, als sich der Reporter auf der Suche nach etwas Essbarem in eine Oberpfälzer Kleinstadt verirrte. Am menschenleeren Marktplatz gab es eine winzige Metzgerei, deren Theke mehr an ein Fleisch-Antiquariat erinnerte. In der Mitte des Verkaufsraums balancierte eine Frau auf einer Staffelei und klebte ein Panzertape an die Decke. Auf die Frage, ob sie eine Wurstsemmel habe, antwortete sie, ohne herabzuschauen, nur mit einem einzigen Wort: „Na.“ Mehr hatte sie dem Fremdling nicht mitzuteilen.

Weiter südlich, bei Passau, entdeckte der Durchreisende einen Garten mit einer Sechzgerfahne auf der Zwergenwiese. Als er anhielt, um sich das Kleinod genauer zu besehen, schlurfte ein unrasierter Zausel zum Zaun. Die Sechzger seien ihm scheißegal, sagte er, er habe die Fahne nur geschenkt bekommen. Aber eins wolle er bei der Gelegenheit mal loswerden: Er habe 45 Jahre lang bei der Freiwilligen Feuerwehr am Ort gedient. Da sei er doch der Meinung, er habe fürs Gemeinwohl wirklich genug geleistet, oder nicht? Der Mann wurde an Ort und Stelle belobigt, gewissermaßen in Amtshilfe für den Freistaat Bayern.
Ja, es gibt schon einiges hier in Bayern, sonst wäre man nicht so lange dageblieben. Der Freistaat ist immer noch für Überraschungen gut. Auch 39 Jahre nach dem Hunderennen in Großköchelham gleichen Recherchefahrten kleinen Abenteuern, die den Reporter immer wieder aufs Neue lehren: Bei der Begegnung mit Menschen sollte man Vorurteile fallen lassen und stattdessen genau hinhören.
Grünen-Chef Felix Banaszak hat kürzlich den Unmut der Konservativen auf sich gezogen, weil er in einem Interview die Frage nach seiner Vaterlandsliebe nicht zufriedenstellend beantwortete. Er liebe Duisburg und sein „konkretes Umfeld“, sagte er. Und zu Deutschland habe er ein „gutes Verhältnis“.
Kann man ein Land überhaupt „lieben“ oder sollte man sich derartige Gefühle nicht besser für Menschen aufsparen? In Bayern stellt sich diese Frage zum Glück erst gar nicht, weil Bairisch kein Wort für Liebe kennt. „Bassd scho“, würden die Franken sagen. In Altbayern ist „I mog di“ das Höchste der Gefühle.
In diesem Sinne sei zum 80. Geburtstag der SZ öffentlich erklärt: Bayern, I mog di immer noch, obwohl wir schon so lange ein gschlampertes Verhältnis haben. Und es wäre schön, wenn wir einander noch ein paar Jahre aushalten könnten.