interview
Nahost-Experte zur Geiselfreilassung „Ein Tag, an dem die Emotionen hochschwappen“
Stand: 13.10.2025 13:02 Uhr
Alle lebenden Geiseln sind frei – in Israel herrschen Jubel, Freude und Erleichterung. „Das lässt niemanden unberührt“, betont Nahost-Experte Fuchs im Interview mit tagesschau24. Viel hänge jetzt von der Hamas ab.
tagesschau24: Mit welchen Erwartungen blicken Sie auf diesen Tag?
Simon Wolfgang Fuchs: Es ist ein Tag, an dem die Emotionen unglaublich hochschwappen. Sowohl bei den Angehörigen der Geiseln und der ganzen israelischen Gesellschaft als auch bei palästinensischen Familien, die ihre geliebten Menschen wieder in die Arme schließen können. Das lässt niemanden unberührt.

Zur Person
Der Nahost-Experte Simon Wolfgang Fuchs ist Associate Professor für Islam in Südasien und im Nahen Osten an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
tagesschau24: Wie nehmen Sie die Stimmung im Land wahr?
Fuchs: Den Israelis ist klar, dass der Krieg jetzt wirklich zu Ende ist. Es gibt aber auch Stimmen, die weiterhin auf die absolute Zerstörung der Hamas und auch die Besetzung des Gazastreifens drängen. Das ist aber nur eine Minderheit.
Die Israelis sind ausgezehrt und erschöpft. Ich sehe das auch an meinen eigenen Studierenden, die Hunderte von Tagen Militärdienst gemacht haben. Der Kurs der israelischen Regierung konnte so – und ohne klares Ziel – nicht weitergeführt werden. Die Freilassung der Geiseln ist jetzt ein Schlusspunkt, um aus diesem Albtraum aufzuwachen.
Hamas weiter als Akteur präsent
tagesschau24: Aus den USA kam zwar immer wieder der Appell an die Hamas, die Waffen niederzulegen, die Terrororganisation hält aber dagegen. Was bedeutet das für Israel?
Fuchs: Wir haben schon die letzten Tage gesehen, dass die Hamas weiterhin als Akteur sehr präsent ist. Gestern hatte sie wieder Tausende von Sicherheitskräften in Gaza-Stadt zusammengezogen, um dort für Ordnung zu sorgen. Von Entwaffnung kann hier keine Rede sein. Nach dem Plan von US-Präsident Donald Trump muss sich die Hamas auch nicht auflösen als Organisation. Sie muss sich entwaffnen. Sie wird erst mal nicht an der Regierung beteiligt sein dürfen, aber sie wird weiterhin eine Rolle spielen. Das ist die Pille, die Israel in dieser Hinsicht schlucken muss.
tagesschau24: Sie gehen also davon aus, dass Israel nicht militärisch eingreifen wird, wenn die Hamas sich nicht entwaffnet?
Fuchs: Es kommt jetzt darauf an, wie die Hamas weiter vorgeht. Ob sie sehr offensiv gegen Israel vorgeht, ob sie ihre Terrorinfrastruktur wieder aufbaut oder ob sie sich als politische Kraft in erster Linie zurückzieht. Bei Letzterem gibt es von amerikanischer Seite aus keinen Rückhalt, um den Krieg wieder aufzunehmen.
Trump hat seinen Blick schon auf ganz andere Dinge gerichtet. Das sieht man auch an der Friedenskonferenz: Es geht um große regionale Kooperationen, Frieden für den Nahen Osten und nicht eine Weiterführung dieser zerstörerischen Aktivitäten.
Kann US-Präsident Trump den Druck aufrechterhalten?
tagesschau24: Wie schätzen Sie die Rolle von US-Präsident Trump in diesem Friedensprozess ein?
Fuchs: Es ist eine ambivalente Rolle. Auf der einen Seite war der Druck entscheidend, um die Geiseln freizubekommen. Auf der anderen Seite sehen wir, dass weiterhin die Rede von einer „Riviera“ und Immobiliendeals im Gazastreifen ist. Das macht es auch wieder leicht unseriös. Von daher ist die Frage: Kann der Druck aufrechterhalten werden? Und ist Trump wirklich an einem Frieden interessiert? Hier geht es nicht um eine Einigung, und die Details werden dann nachher ausdiskutiert, sondern hier geht es um absolut komplizierte Fragen. Bisher habe ich in der Hinsicht noch nicht viel amerikanische Hingabe gesehen.
tagesschau24: Welche Rolle können die Palästinenser spielen?
Fuchs: Es liegt jetzt an der palästinensischen Seite, sich zu einigen – also die Kräfte im Westjordanland, die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas. Viele palästinensische Stimmen im Gazastreifen geben der Hamas die Schuld an der absoluten Zerstörung, die wir nach zwei Jahren Krieg im Gazastreifen sehen. Alle Bäume sind zerstört, das ganze Umfeld. Das sind wirklich dystopische Szenen.
Die Palästinensische Autonomiebehörde hingegen hat schon oft zu verstehen gegeben, sie wäre bereit, eine Rolle im Gazastreifen zu übernehmen. Sie ist auch für Israel ein Partner, mit dem man jeden Tag zusammenarbeitet. Aber Israel hat das klar ausgeschlossen.
Widerstand gegen Zweistaatenlösung
tagesschau24: Sehen Sie aktuell Chancen für eine Zweistaatenlösung?
Fuchs: In der Hinsicht finde ich es recht aufschlussreich, sich die Rede des US-Sondergesandten Steve Witkoff vom Samstag in Tel Aviv anzuschauen. Da wurde Trump sehr gefeiert, aber es wurde relativ still, als Witkoff von Frieden sprach. In der israelischen Gesellschaft wird das als naiv angesehen, als etwas, was ausgeträumt ist – eine Option, die nicht mehr besteht. Stattdessen muss man dem Konflikt begegnen mit Stärke und Härte. Das Friedenslager ist sehr klein. Also ich würde sagen, bis in die israelische Opposition hinein hält man eine Zweistaatenlösung für nicht machbar und eigentlich schon längst für passé.
tagesschau24: Welche Möglichkeiten hat bei diesem Prozess Europa – speziell auch Deutschland?
Fuchs: Europa und Deutschland müssen sich darauf einstellen, dass jetzt andere Länder das Sagen haben. Das sind nicht nur die USA, sondern auch Katar, Ägypten und die Türkei, die maßgeblich zu dem Zustandekommen dieses Abkommens beigetragen haben. Deutschland kann von der Seitenlinie aus unterstützen, auch finanzielle Unterstützung leisten, aber die eigentlichen Kontakte, über die verfügen andere. Auf diese Position muss sich Europa neu einstellen.
Das Gespräch führte Tim Berendonk für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde der Text redigiert.