Stand: 04.10.2025 08:05 Uhr
Immer wieder werden Jahrtausende alte Werkzeuge und Knochen aus der Nordsee gefischt. Forschende vermuten: Sie stammen vom untergegangenen Doggerland. Während der letzten großen Erderwärmung ist es im Meer versunken.
Von Marisa Gierlinger, BR
Die Nordsee trennt Großbritannien vom europäischen Festland. Doch das war nicht immer so. Denn unter der Wasseroberfläche liegt ein Land, das einst fruchtbar und bewohnt war: Das Atlantis der Nordsee, das während der letzten großen Erderwärmung unterging.
Hinweise hatte es schon früh gegeben: prähistorische Werkzeuge, die Knochen oder Stoßzähne längst ausgestorbener Tiere. Sie tauchten als Beifang in den Netzen niederländischer Fischer auf, die schon im 19. Jahrhundert Schleppnetze über den Meeresboden zogen. Doch die Funde passten nicht in das Weltbild der damaligen Zeit. Man warf sie zurück ins Meer.
Harpunenspitze in Fischernetz
Erst 1931 wird man einer Entdeckung doch Beachtung schenken. So erzählt es der Archäologe Jim Leary von der University of York im BR-Interview. 40 Kilometer vor der Küste von Norfolk im Osten Großbritanniens zieht das Fischerboot Colinda einen Torfklumpen an Deck. Darin eingebettet ist eine kunstvoll zurechtgeschnitzte Harpunenspitze aus Geweih. Experten datieren sie inzwischen auf 11.000 bis 12.000 Jahre vor Christus, in die Mittelsteinzeit.
Für Jim Leary beweist der Fund: Da, wo heute die Nordsee ist, war einst trockenes Land, auf dem Tiere und Menschen lebten. Erst in den 1990er-Jahren wird die versunkene Landschaft einen Namen bekommen: Doggerland – benannt nach ihrer höchsten Erhebung, der Doggerbank, die heute 13 Meter unter dem Meeresspiegel liegt.
In der Mittelsteinzeit grün und fruchtbar
Die Mittelsteinzeit, das Mesolithikum, beginnt am Ende der letzten Eiszeit. Zuvor waren große Teile Nordeuropas jahrtausendelang von Gletschern und Eisschilden bedeckt, die gigantische Wassermassen speicherten. Der Meeresspiegel lag deutlich niedriger als heute und gab zwischen dem heutigen Großbritannien und dem europäischen Festland ein fruchtbares Gebiet frei. Das belegen Sedimentanalysen aus Bohrkernen heute.
Was lange unbewohnbares Terrain war, erwärmt sich in der Mittelsteinzeit schrittweise. Und zieht Tiere und Menschen an, die von Mittel- und Südeuropa aus in neue Gebiete vordringen. Die Landschaft, die sie dort vorfinden, beschreibt Archäologe Leary so: „Es war ein großteils flaches Gebiet, sehr feucht und von zahlreichen Flüssen und Seen durchzogen. Es gab auch Stellen, die vermutlich sehr dicht bewaldet waren. Wir sprechen also von einer sehr reichen, üppigen Landschaft, sehr grün und mit vielen Süßwasserquellen.“ Für die Jäger und Sammler der Mittelsteinzeit ist es ein Paradies. Aber es ist nicht von Dauer.
Die Artefakte des Doggerlands: Zu sehen sind aus verschiedenen Materialien hergestellte Spitzen für Waffen und Werkzeuge.
Steigender Meeresspiegel lässt Doggerland untergehen
Die Temperaturen steigen weiter und mit ihnen der Meeresspiegel. Es sind sprunghafte Veränderungen, sie sind nicht überall gleich spürbar. Doch das flache Doggerland ist ihnen wie kaum eine andere Region ausgesetzt. Die Küsten weichen zurück, immer mehr Süßwasserquellen versalzen. Bestimmte Pflanzen sterben ab, die Wanderbewegungen der Tiere verändern sich. So rekonstruiert es Jim Leary in seinem Buch „The Remembered Land“. Den Menschen bleiben zwei Optionen: Abwandern oder sich anpassen und neue Strategien entwickeln, neue Ressourcen erschließen. Leary ist sich sicher: „Die Jäger und Sammler waren ganz gut darauf eingestellt, Veränderungen in der Umwelt zu erkennen und sich darauf einzustellen. In dieser Hinsicht könnten wir etwas von ihnen lernen.“
Irgendwann ist Doggerland ein Inselreich, zum Schluss ragt vermutlich nur noch die namensgebende Doggerbank aus den Fluten. Vor etwa 8.000 Jahren kommt es zu zwei Klimaereignissen mit globalen Folgen. In Nordamerika ergießt sich aus einem riesigen Schmelzwassersee eine gigantische Menge Süßwasser in den Atlantik und führt zu einem schlagartigen Anstieg des Meeresspiegels.
Nur wenig später kommt es vor der Küste Norwegens unter Wasser zu einem gewaltigen Erdrutsch. Die anschließende Tsunamiwelle prallt mit bis zu 20 Metern Höhe auf die Küsten Nordeuropas. Was von Doggerland noch übrig ist, wenn überhaupt, wird vermutlich von den Fluten verschluckt. Experten seien sich darüber immer noch uneins, sagt Leary. Was einigermaßen sicher sei: Menschen können die Katastrophe kaum überlebt haben.
Funde aus der Fischerei, Daten aus der Industrie und KI
Heute gilt der Nordseeboden als eine der vielversprechendsten archäologischen Stätten Europas. Hinterlassenschaften aus der Mittelsteinzeit sind rar, die Meeresumgebung könnte Artefakte gut konserviert haben. Aber es gibt einen Haken: Das versunkene Land ist außer Reichweite, für Forschende kaum erschließbar. Unterwassergrabungen wären teuer und schwierig zu bewerkstelligen. „Die einzigen Zeugnisse, die wir haben, dass früher Menschen dort lebten, wo heute die Nordsee ist, sind Zufallsfunde, die von Fischerbooten mit Schleppnetzen nach oben geholt wurden“, sagt Vincent Gaffney von der University of Bradford.
Die Zusammenarbeit mit Schleppnetzfischern sieht man in der Wissenschaft zunehmend kritisch. Man bemüht sich um einen nachhaltigeren Zugang, um das Nordseeareal zu erforschen. Neuere Projekte nutzen Magnetfelddaten von Offshore-Windparks. Gaffney und seine Kollegen kartografieren das Gebiet seit Jahren mit zweitverwerteten seismischen Daten aus der Erdölindustrie. „Wir haben einen großen Teil des Meeresbodens kartografiert“, sagt Gaffney, „und nutzen jetzt KI, um abzuschätzen, wo früher Menschen gelebt haben könnten und es vielleicht noch Artefakte geben könnte.“
Die Ergebnisse könnten weitere Entdeckungen ermöglichen. Noch schlummern auf dem Nordseegrund viele Geheimnisse. Doch auch das macht den Reiz von Doggerland aus, findet Archäologe Jim Leary: „Wir alle lieben Geschichten über Atlantis. Und näher als hier werden wir dem Mythos von Atlantis nie kommen.“
ARD-Audiothek: „Steinzeitliches Doggerland – Das Atlantis der Nordsee“
Die spannende Suche nach Doggerland miterleben: Die Sendung Radiowissen fasst zusammen, was man bislang über das versunkene Land weiß. Der Archäologe Jim Leary von der University of York berichtet ausführlich und anschaulich von den faszinierenden Entdeckungen und was wir auch heute noch von den damaligen Bewohnern lernen können: „Steinzeitliches Doggerland – Das Atlantis der Nordsee“ in der ARD-Audiothek.









