Sorgen im Einzelhandel Wenn Traditionsgeschäfte aufgeben müssen
Stand: 15.11.2025 05:11 Uhr
Nach mehr als 100 Jahren schließen zwei Traditionsläden in der Mainzer Innenstadt zum Jahresende. Die Gründe sind symptomatisch für die Branche: Keine Nachfolger, fehlendes Geld für Investitionen und der Onlinehandel.
Alle vier Kassen sind geöffnet, trotzdem bildet sich entlang der Verkaufsregale eine Schlange. Ein gutes Dutzend Kundinnen und Kunden warten – bepackt mit Geschenkpapier, Deko-Artikeln, einer Auswahl an Stiften. In der Hauptfiliale von Listmann mitten in der Mainzer Innenstadt ist in diesen Tagen deutlich mehr Betrieb als gewöhnlich. Ende Oktober hatte das Fachgeschäft für Kreativbedarf und Schreibwaren angekündigt, zum Jahresende die Filialen in Mainz, Wiesbaden und Koblenz zu schließen. Das Geschäft in Aachen wird verkauft. Seitdem läuft der Räumungsverkauf.
Viele Kundinnen und Kunden wollen auf den drei Etagen ein letztes Mal bummeln. „Hier finde ich eine Auswahl, die es in anderen Geschäften einfach nicht gibt“, erzählt Lydia Zimmermann. Die Geschäftsaufgabe sei bedauerlich. „Jetzt gibt es in Mainz bald kein richtiges Schreibwarengeschäft mehr. Sehr traurig“, sagt Götz Brandt. Viele, die an unterschiedlich großen Pinseln, Briefumschlägen oder Schulranzen vorbeischlendern, empfinden ähnlich.
Listmann ist ein Fachgeschäft für Kreativbedarf und Schreibwaren in Mainz. Das 1889 gegründete Geschäft schließt zum Jahresende.
„Unsere Geschäftsphilosophie wird von den Mainzern geschätzt. Wir merken, mit welcher Trauer unsere Kunden die Geschäftsaufgabe wahrnehmen“, sagt Oliver Listmann. Er leitet das Fachgeschäft seit 36 Jahren in vierter Generation. Sein Urgroßvater Friedrich Listmann gründete 1889 den ersten Laden in Mainz.
Zu klein für Investor, zu groß für Händler
Dennoch sei die Entscheidung gefallen: „Meine beiden Söhne sind beruflich in anderen Branchen tätig, Medizin und Sportmanagement. Eine andere Nachfolge habe ich nicht gefunden.“ Das Unternehmen mit etwas mehr als 100 Mitarbeitenden in vier Filialen sei zu groß für eine komplette Übernahme durch einen anderen Einzelhändler. Andererseits sei Listmann zu klein, um für einen Investor interessant zu sein.
„Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder investiert, waren bemüht, unseren Kunden ein besonderes Einkaufserlebnis zu bieten“, sagt der Geschäftsführer. Doch der Einzelhandel habe es schwer. Die Umsätze stagnierten und die Kosten stiegen. „Energie kostet mehr, unser Wareneinkauf wird teurer, die Mietnebenkosten, Versicherungen“, zählt Listmann auf. Das spürten auch die Konsumentinnen und Konsumenten, kauften weniger. „Wir machen noch einen kleinen Gewinn, aber es ist nicht mehr attraktiv genug, um weiter zu investieren“, sagt der Unternehmer.
Tausende Geschäfte verschwinden dieses Jahr
Der Handelsverband Deutschland sieht eine dramatische Entwicklung: „Allein im laufenden Jahr 2025 werden voraussichtlich 4.500 Geschäfte ihre Türen für immer schließen“, prognostiziert Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland. Um eine Verödung der Innenstädte zu verhindern, müsse es bessere Abschreibungsmöglichkeiten für private Investitionen in den Stadtzentren geben. Die Bundesregierung müsse Einzelhändler außerdem bei den Energiepreisen entlasten, etwa bei der Stromsteuer.
Eine der aktuell größten Herausforderungen der Branche sind laut Handelsverband Plattformen aus China. Mit Temu und Shein gebe es noch immer einen unfairen Wettbewerb. „Notwendig ist hierfür etwa, die Zollfreigrenze von 150 Euro schnell abzuschaffen, um Tricksereien zu verhindern“, fordert Genth.
Geschäftsaufgabe nach 100 Jahren
Nur wenige hundert Meter Fußweg vom Schreibwarenhändler Listmann entfernt liegt der Kinderladen Wirth am Mainzer Münsterplatz. Auch dort hängen in den Schaufenstern Plakate mit der Aufschrift „Wir schließen – Alles muss raus!“. Das Traditionsgeschäft schließt einhundert Jahre nach der Gründung. Generationen von Kindern sind mit dem Geschäft groß geworden und haben gehofft, dass ihre Eltern ihnen einen Kuschelbär, die Modelleisenbahn oder einen Experimentierkasten schenken.
Bis zum 31. Dezember hat das Geschäft noch geöffnet. „Im Moment sind viele Tage gefühlt wie ein Adventssamstag“, erzählt Christoph Demmler, der das Geschäft mit seinem Bruder Friedrich betreibt. Viele Regale sind bereits komplett leer. Lego-Produkte sind ausverkauft, einzelne Schleich-Spielfiguren warten noch auf Käuferinnen und Käufer. Der Laden sei oft voll, fast jeder Kunde spreche sie an, erzähle von Erinnerungen an den Kinderladen. Ein Kunde habe ihnen sogar eine Fußmatte mit dem Aufdruck „Kinderladen Wirth“ abgekauft, als Andenken. Ein zwiespältiges Gefühl sei das, erzählt Demmler.
Der Räumungsverkauf im Kinderladen Wirth in Mainz läuft. Auch dieses Geschäft macht zum Jahresende zu.
Große Konkurrenz durch Onlinehandel
„Wären die Kunden früher in dieser Zahl gekommen, dann wären wir noch hier und würden nicht aufhören.“ Eine große Zäsur sei die Corona-Pandemie gewesen. Der Kinderladen habe während des Lockdowns schließen müssen, während Drogeriemärkte weiter Kleinkindartikel und Spielwaren verkaufen durften. „Nach Corona haben wir zu keinem Zeitpunkt mehr die Umsätze von 2019 erreicht“, sagt Demmler.
Der stetig wachsende Onlinehandel sei eine große Konkurrenz, hinzu komme die Kaufzurückhaltung vieler Kundinnen und Kunden. Ein weiteres Problem sehen die Demmler-Brüder in den vielen Baustellen in der Mainzer Innenstadt. „Zusätzlich zum Homeoffice-Trend merken wird, dass die Laufkundschaft abnimmt und es dadurch zu weniger spontanen Käufen bei uns im Laden kommt“, so Demmler.
„Individualität bleibt auf der Strecke“
Das Gebäude des Kinderladens Wirth soll verkauft werden. Die jetzigen Inhaber hoffen, dass dort wieder qualitativ hochwertiger Einzelhandel entsteht. Auch Listmann sorgt sich um die Vielfältigkeit des Angebots: „Viele Innenstädte ähneln sich, überall sind Filialen der gleichen Ketten. Die Individualität bleibt auf der Strecke.“
Die Stadt Mainz sieht im Aus der beiden Betriebe einen Verlust für die Stadt. Solche Geschäfte seien Identitätsanker für Mainz, erklärt ein Pressesprecher. Es gebe allerdings kein generelles Problem für den Handel in Mainz. 6,5 Prozent der Läden sind nach Angaben der Stadt derzeit nicht vermietet und stehen derzeit leer. Deutschlandweit liege die Quote bei durchschnittlich zehn Prozent. Zudem seien die Gewerbesteuereinnahmen aus dem Einzelhandel zuletzt gestiegen.









