Stand: 21.11.2025 07:44 Uhr
Deutschland galt lange als Land, in dem fast jeder den sozialen Aufstieg schaffen konnte. Eine aktuelle Studie des Münchner ifo-Instituts zeigt nun, dass das immer schwieriger wird.
Van Mai studiert in Marburg Humanbiologie. Im Sommer hat sie ihre Masterarbeit abgegeben, nächstes Jahr will sie ihr Studium abschließen. Ihr Weg bis hier sei hart gewesen, sagt sie. Auch weil sie immer finanzielle Probleme hatte: „Ich komme aus einer einkommensschwachen Familie und hatte immer schon Existenzängste.“
Die 26-Jährige ist die Erste in ihrer Familie, die studiert. Ihr Vater kam in den 1980er Jahren aus Vietnam nach Deutschland, arbeitet heute als Koch. Van hat sechs Geschwister und ihre Eltern nicht genug Geld, ihr Studium zu finanzieren. Sie habe gewusst, dass der Weg anstrengend werde, sagt Van. Das habe sie aber in Kauf genommen, um ihren Traum zu verwirklichen, Forscherin zu werden.
Van Mai arbeitet hart für ihr Studium.
Immer mehr geben als andere
Van Mai ist nicht die Einzige, die sich mehr anstrengen muss als andere: Studien zufolge beginnen von 100 Akademikerkindern 79 ein Studium, 43 erwerben einen Masterabschluss. Von 100 Nichtakademikerkindern sind es gerade 27, die ein Studium beginnen. Und nur elf, die einen Masterabschluss erwerben.
Dennoch galt bislang in Deutschland das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft: Wer fleißig ist, kann es zu etwas bringen und aus eigener Kraft bessere Bildung und ein besseres Einkommen erzielen als das der Eltern. Dieses Versprechen entwickelte der Wirtschaftsprofessor Alfred Müller-Armack zusammen mit dem späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg.
Dass es heute so nicht mehr gilt, zeigt Andreas Peichl, Professor der Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in seiner neuesten Studie: „Die Wahrscheinlichkeit, dass man, wenn man aus einem armen Elternhaus kommt, einen großen Aufstieg schafft, ist auf jeden Fall zurückgegangen.“
Deutschland stürzt im internationalen Vergleich ab
Peichl leitet das ifo-Zentrum für Makroökonomik und Befragungen und hat untersucht, inwieweit Einkommen und Bildung von Kindern von den Eltern abhängen. Die Daten stammen aus dem sozioökonomischen Panel, einer Haushaltsbefragung in Deutschland. Das Ergebnis sei ernüchternd: Mit Blick auf die Aufstiegschancen stürze Deutschland im internationalen Vergleich ab.
Berechnet hat er seine Ergebnisse am sogenannten Rang-Rang-Koeffizienten. Dieser misst, wie stark das Einkommen der Eltern mit dem späteren Einkommen ihrer Kinder zusammenhängt. Liegt der Wert bei 0, spielt die Herkunft keine Rolle. Liegt er bei 1, landen die Kinder zwangsläufig auf dem gleichen Einkommensrang wie ihre Eltern. Die Studie zeige, dass dieser Wert in Deutschland deutlich gestiegen sei, sagt Peichl: Von 0,17 bei den Anfang der 1970er Geborenen auf 0,34 den Mitte der 1980er Geborenen.
Andreas Peichl hat die sozialen Aufstiegschancen in Deutschland untersucht.
Folgen für Innovation und Wirtschaftswachstum
Der Einfluss des Elternhauses auf das spätere Einkommen habe sich innerhalb einer Generation etwa verdoppelt, sagt der Ökonom: „Früher war Deutschland ähnlich wie andere europäische und insbesondere skandinavische Länder eines der Länder mit der höchsten sozialen Mobilität“, sagt Peichl.
Heute sei Deutschland im internationalen Vergleich von den entwickelten Volkswirtschaften eines der Länder mit der niedrigsten sozialen Mobilität – ähnlich wie die USA. Das sei problematisch, da sich die eigene Anstrengung weniger lohne und nicht die besten Talente oder die fleißigsten Menschen erfolgreich seien. Talente würden so verschwendet. Das führe langfristig zu weniger Innovation und Wirtschaftswachstum.
„Mehr in frühe Bildung investieren“
Der Bildungsstatus und der Beruf der Eltern sollte den Werdegang der Kinder nicht beeinflussen, meint Peichl. Aus ökonomischer Sicht spreche vieles dafür, allen die gleichen Chancen zu geben. Doch dafür brauche es mehr Chancengerechtigkeit und weniger Abhängigkeit vom Elternhaus.
Deutschland müsse mehr in frühe Bildung investieren, fordert der Ökonom. In anderen Ländern, zum Beispiel den europäischen Nachbarländern oder Australien, würden Kinder schon ab dem vierten Lebensjahr verbindlich eine Vorschule besuchen. Unterschiede zwischen den Kindern könnten so früh aufgegriffen werden. „In Deutschland versuchen wir seit langem, Kinderbetreuung auszubauen, aber da geht es im Wesentlichen nur darum, dass die Kinder den Tag überleben, dass sie versorgt werden und sich nicht verletzen – und weniger um Bildung, weil oft auch das Personal dafür fehlt.“
Soziale Aufstiegschancen sind nicht nur entscheidend für das Wirtschaftswachstum, sondern auch für die Stabilität unserer Demokratie, betont Peichl. Wo sie fehlten und die Unzufriedenheit hoch sei, würden populistische Parteien an Boden gewinnen. Die USA seien ein Beispiel dafür.
Mit gemischten Gefühlen in die Zukunft
Van Mai versteht die Unzufriedenheit vieler, ist aber durch und durch Demokratin. Sie will nächstes Jahr ihr Studium beenden. Aber auch wenn sie sich als Naturwissenschaftlerin und Migrantin zweiter Generation durchgesetzt hat: Ein Gefühl des Unwohlseins bleibt – und die Frage, ob sie den Aufstieg tatsächlich schafft. Sie habe ihren Masterabschluss in der Tasche und damit ihr Ziel erreicht, aber: „Ich frage mich, werde ich noch in der Zukunft Existenzängste haben? Die Angst haben, gut genug zu sein?“
Die 26-Jährige schaut mit gemischten Gefühlen in die Zukunft. Sie wünscht sich von der Gesellschaft mehr Verständnis und Unterstützung von Erstakademikern. Von der Politik fordert sie bezahlbaren Wohnraum für Studierende und Azubis und keine Wartezeiten bei der BAföG-Beantragung.









