Stand: 01.11.2025 13:10 Uhr
Betroffene sehen im neuen Selbstbestimmungsgesetz eine große Erleichterung. Doch die Kritik daran reißt nicht ab. Die Bilanz nach einem Jahr ist durchwachsen.
Lio Titos läuft heute als Mann über die Tartanbahn in Laichingen bei Ulm, wo er früher als Mädchen Sport gemacht hat. Leichtathletik half ihm in der Jugend, abzuschalten, negative Gedanken abzuschütteln. Doch in der Umkleide haben sie ihn immer wieder eingeholt. „Ich habe mich nie richtig gefühlt, wenn ich mich bei den Mädchen umgezogen habe. Dann ging es zum Beispiel darum, dass man einen Sport-BH braucht. Das hat sich nie richtig angefühlt.“
Heute fühlt es sich richtig an für Titos. Er hat vor einem Jahr seinen Geschlechtseintrag von weiblich zu männlich geändert. Da er zum Zeitpunkt des Antrags noch 17 Jahre alt war, hat er ihn gemeinsam mit seinen Eltern gestellt. Möglich gemacht hat es das neue Selbstbestimmungsgesetz, das Titos als Erlösung nach einer fremdbestimmten Jugend ansieht. „Ich konnte einfach nicht selbstbestimmt mein Leben leben und das ist jetzt anders.“
Zum 1. November 2024 hat das Selbstbestimmungsgesetz das Transsexuellengesetz ersetzt. Davor mussten Menschen, die ihr Geschlecht ändern wollten, zwei psychiatrische Gutachten einholen und die Entscheidung eines Gerichts abwarten. Dies war mit hohen Kosten und intimen Fragen, beispielsweise zum Masturbationsverhalten, verbunden. Auf das neue Gesetz haben viele trans- und intergeschlechtliche Menschen gewartet. Die Kritik daran ist jedoch weiterhin groß. Eines der Hauptargumente: Es werde Menschen zu einfach gemacht, ihren Geschlechtseintrag zu ändern.
Der Fall Marla-Svenja Liebich polarisiert
Als prominentes Beispiel wird immer wieder die Rechtsextremistin Marla-Svenja Liebich herangezogen. Ihr wird vorgeworfen, das Gesetz zu missbrauchen, unter anderem für die eigene Inszenierung und um den Staat lächerlich zu machen. Sie hat im Januar ihren Geschlechtseintrag von männlich zu weiblich geändert. Zuvor war Liebich wegen Volksverhetzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Die Haft in einem Frauengefängnis trat sie nicht an, floh laut eigenen Angaben nach Moskau.
Die Rechtswissenschaftlerin Judith Froese von der Universität Konstanz hat schon im Gesetzgebungsverfahren als Sachverständige davor gewarnt, dass nur die Standesämter über die Änderungsanträge entscheiden. Zwar dürfen sie Anträge bei grobem Missbrauch ablehnen, diesen jedoch nachzuweisen sei nach der neuen Rechtslage kaum möglich. „Wenn das Selbstbestimmungsgesetz nur auf die Erklärung des Einzelnen abstellt, dann ist es schwierig zu sagen, die Erklärung stimmt nicht überein mit ihrem tatsächlichen Zugehörigkeitsempfinden. Da kommen wir sozusagen gar nicht richtig ran“, sagt Froese.
Stabilität der Entscheidung im Fokus
Froese spricht sich daher weiterhin mindestens für eine Beratungspflicht aus, um die Stabilität der Entscheidung sicherzustellen. Dazu dienten im alten Transsexuellengesetz die verpflichtenden Gutachten. Im neuen Selbstbestimmungsgesetz sieht die Rechtswissenschaftlerin weitere Schwächen: „Wenn es beispielsweise um den Sport, den Justizvollzug oder das Hausrecht geht. Wo dann letztlich auf die konkrete Situation abgewälzt wird, ob jetzt der Geschlechtseintrag maßgeblich sein soll oder andere Komponenten.“
Das könne dazu führen, dass eine Person, die weiblich als Geschlechtseintrag gewählt hat, aber weiterhin von außen eher als Mann aufgrund ihrer geschlechtstypischen Merkmale identifiziert wird, in einem reinen Frauen-Fitnessstudio ausgeschlossen wird. Das führe laut Froese zu der paradoxen Situation, dass die eigentlich erwünschte Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung überstimmt wird. Und möglicherweise zu Gerichtsverfahren, um diese Diskrepanz zu klären.
Verfassungsbeschwerde gegen Selbstbestimmungsgesetz
Alina Morad hat die Geschlechtsangleichung nach altem Transsexuellengesetz hinter sich. Ein langer Prozess, am Ende aber gerichtsfest entschieden. Dass das neue Selbstbestimmungsgesetz die genannte Problematik beim Hausrecht offenlässt, hat sie zu einer Verfassungsbeschwerde am Bundesverfassungsgericht erwogen.
Sie sieht darin ihre Grundrechte verletzt. „Wenn ich im Gegensatz zu früher einen Bereich aufsuche, der geschlechtsspezifisch für Frauen gedacht ist, darf der Hausrechtsinhaber meine vergangene Körperlichkeit als Grund nehmen – oder auch ohne Grund – mich pauschal des Raumes zu verweisen“, sagt Morad. Ihre Beschwerde hat Morad am Freitag eingereicht. Die Prüfung, ob sich das Bundesverfassungsgericht damit befasst, wird dauern.
Viele Betroffene sehen Erleichterung
Dass viele trans- und intergeschlechtliche Menschen auf das Selbstbestimmungsgesetz gewartet haben, zeigen vorläufige Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Von Januar bis Juli 2025 haben 12.056 Menschen die Möglichkeit genutzt, ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Deutlich mehr als von der Bundesregierung angenommen, die 4.000 Anträge pro Jahr als realistisch einschätzt. „Die vorläufigen Ergebnisse nehmen wir mit Interesse zur Kenntnis. Die monatliche Zahl der Änderungen des Geschlechtseintrags im Geburtenregister scheint danach seit Januar 2025 kontinuierlich zu sinken“, teilt ein Sprecher des zuständigen Bundesfamilienministeriums auf Nachfrage der ARD mit.
Im Koalitionsvertrag hat die schwarz-rote Koalition eine Evaluation des Gesetzes bis „spätestens 31. Juli 2026“ vereinbart. Ausgang offen. Wie Lio Titos aus Laichingen sehen viele Betroffen in dem Gesetz einen enormen Fortschritt. Der 18-Jährige kann die Kritik nicht nachvollziehen. Über seine Jugend hat er ein Buch geschrieben und bezeichnet sie darin als „fremdbestimmt“. Er beschreibt darüber hinaus, wie lange er den Wunsch schon gehegt hat, als Mann zu leben, wie er es nun tut.
Mit Blick auf die Stabilität seiner Entscheidung sagt er: „Die bleibt. Für immer.“ Was ihm noch fehlt, sind geschlechtsangleichende Operationen. Diese möchte Lio Titos nun als Mann schnellstmöglich angehen.










