Social Media und Jugendliche Frankreichs Politik macht Druck auf TikTok
Stand: 07.12.2025 19:09 Uhr
„Zerstörerisch“, so beschreibt ein Untersuchungsausschuss der französischen Nationalversammlung die Wirkung, die TikTok auf Jugendliche haben kann. Auch deshalb diskutiert Frankreich über ein Verbot für unter 15-Jährige.
Mitten auf dem Pariser Opernplatz steht eine schwarze Box mit Glastür. Darin sitzt ein Mädchen, versunken ins Handy. Sie heißt Alice, ist 15 und leidet an Depressionen und Essstörungen.
Jeden Tag verbringt Alice gut fünf Stunden auf TikTok. Was sie dort sieht? Tipps für extreme Diäten und Selbstverletzung.
Amnesty France erhebt Vorwürfe gegen TikTok
Alice ist Schauspielerin – und die Box hat Amnesty International aufgestellt. Mit der Aktion will die Menschenrechtsorganisation davor warnen, wie gefährlich TikTok sein kann.
Viele Jugendliche würden vom Algorithmus der Plattform genauso gefangen und isoliert wie Alice in der Box. Denn je mehr traurige Videos ein Nutzer oder eine Nutzerin schaue, desto mehr davon würde der Algorithmus vorschlagen, sagt Katia Roux von Amnesty France: „Nicht, weil der Algorithmus darauf ausgelegt ist, traurige Inhalte per se bevorzugt anzuzeigen“, so Roux.
Sondern weil er die Inhalte pusht, die für die meiste Aufmerksamkeit und die meisten Interaktion sorgen. Auch, wenn das gefährliche Inhalte sind.
„Systematische Gefahr“ für Jugendliche
Auch Inhalte, die Depressionen oder Suizid verharmlosen oder sogar idealisieren, würden nach dem gleichen Muster forciert, so Roux. Amnesty France hat diese Mechanismen mit eigens erstellten Test-Profilen untersucht und einen Bericht darüber veröffentlicht. Grundsätzlich arbeiteten alle Social-Media-Plattformen nach dem beschriebenen Muster, erklärt Roux.
Aber: „TikTok hat diese Logik bis ins Extrem getrieben. Die Plattform hat bewusst entschieden, dass man unendlich scrollen kann, dass Videos automatisch starten – und dass der Algorithmus speziell auf die Nutzer zugeschnittene Vorschläge macht.“ Roux bezeichnet das als „systematische Gefahr“ – vor allem für Jugendliche, die besonders verletzbar seien.
Nach Angaben des Medienforschungsunternehmens Médiamétrie sind 40 Prozent der französischen Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren täglich auf TikTok unterwegs. Bei den 15- bis 24-Jährigen ist es fast die Hälfte.
Untersuchungsausschuss zu Social-Media-Verbot
Die französische Politik will Entschlossenheit zeigen und diskutiert über Möglichkeiten, Social Media und dabei vor allem TikTok strenger zu regulieren. Arthur Delaporte ist Abgeordneter für die Sozialisten und der Vorsitzende eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu TikTok.
Er ist überzeugt, dass TikTok die Gesundheit und sogar das Leben der Nutzer bewusst gefährde, und zwar aus wirtschaftlichem Interesse:
„Das Geschäftsmodell von TikTok funktioniert über Aufmerksamkeit. Es geht darum, vor allem junge Menschen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten. Das funktioniert auch über Schock-Inhalte“, so Delaporte im Gespräch mit dem ARD-Studio Paris.
Und die Plattform tut nicht genug, um Inhalte zu regulieren, die traumatisieren können – die etwa zu Selbstverletzung, zu Suizid oder zu Essstörungen anstiften können.
In ihrem Abschlussbericht haben die französischen Parlamentarier rund 40 Forderungen aufgestellt. Die wohl radikalste davon: ein allgemeines Social-Media-Verbot für Jugendliche unter 15 Jahren. Der Bericht kritisiert, dass der TikTok-Algorithmus bewusst manipulativ gestaltet sei, dass die Plattform schädliche Inhalte nicht konsequent genug lösche – und dass die Altersprüfung bei den Nutzern in vielen Fällen versage.
TikTok weist Vorwürfe vehement zurück
TikTok nennt die Darstellungen im Bericht des Untersuchungsausschusses „irreführend“ und wirft den Parlamentariern vor, angesichts von Herausforderungen, die die gesamte Branche betreffen, das Unternehmen zum „Sündenbock“ machen zu wollen. So erklärte es das Unternehmen gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
Bemühungen des ARD-Studios, Kontakt zu TikTok France aufzunehmen, liefen ins Leere. Vertreter der Plattform hatten aber im Sommer vor dem Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung ausgesagt, darunter Marlène Masure. Sie ist als Geschäftsführerin für die Inhalte von TikTok unter anderem in Europa verantwortlich.
Masure betonte damals, dass TikTok regelmäßig Konten von Nutzern sperre, die jünger als 13 sind. Das ist das Mindestalter für einen Account, das das Unternehmen selbst festgelegt hat. „Wir haben im vergangenen Jahr in Frankreich gut 640.000 Konten gesperrt, deren Nutzer wir als unter 13 identifiziert hatten und die nicht beweisen konnten, dass sie älter sind“, so Masure.
Social-Media-Regulierung als Chefsache
Die Alterskontrollen lassen sich in der Praxis allerdings ziemlich einfach austricksen. Fachleute betonen außerdem, dass es bisher keine Technologie gebe, die solche Kontrollen wirklich garantieren kann und gleichzeitig Datenschutz-Standards beachtet.
Zudem gibt es in Frankreich schon seit 2023 ein Gesetz zur „Digitalen Volljährigkeit“, das Social Media für unter 15-Jährige verbieten sollte. Dieses Gesetz wurde aber nie angewandt. Denn das europäische Gesetz über Digitale Dienste (Digital Services Act, kurz DSA) gab den Mitgliedsstaaten nur wenig Spielraum für nationale Altersbeschränkungen.
Doch für den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron ist das Thema zentral, weshalb er im Juni Druck machte und mit einem französischen Alleingang drohte. Wenig später veröffentlichte die EU-Kommission Leitlinien für einen strengeren Jugendschutz innerhalb des Gesetzes über Digitale Dienste.
Diese Leitlinien sehen etwa vor, dass fünf Länder – darunter Frankreich – ab dem kommenden Jahr eine App testen, die eine effektive Altersprüfung und gleichzeitig Datenschutz garantieren soll.
Mehr regulieren – oder besser durchsetzen?
Fachleute und Datenschutzexperten betonen, dass der rechtliche Rahmen für eine strengere Regulierung – etwa mit Blick auf Altersprüfungen – im Grunde bereits existiere. Diese Regeln müssten aber konsequenter durchgesetzt werden.
Ein allgemeines Social-Media-Verbot für unter 15-Jährige ist auch in Frankreich umstritten – sogar innerhalb des Untersuchungsausschusses, der dieses Verbot gefordert hatte. Der Ausschussvorsitzende Arthur Delaporte hält es persönlich nicht für sinnvoll.
„Wenn wir TikTok für unter 15-Jährige verbieten wirkt das, als wären die Jugendlichen oder die Eltern schuld. Dabei liegt die Verantwortung doch bei den Plattformen, die die Jugendlichen in Gefahr gebracht haben“, so Delaporte im Gespräch mit dem ARD-Studio. „Wir dürfen diese Verantwortung nicht umkehren. Jugendliche haben ein Recht, sich online sicher zu bewegen und geschützt zu sein.“
Delaporte hat deshalb Strafanzeige gegen TikTok erstattet, weil die Algorithmus-Spirale eine Gefahr für Jugendliche sei und weil die Plattform nicht genug mache, um Jugendliche zu schützen. Die Pariser Staatsanwaltschaft hat Vorermittlungen eingeleitet. Ob es zu einem Prozess kommt, ist Stand heute unklar.








