Stand: 12.12.2025 00:03 Uhr
Probleme mit Konzentration, Unruhe und Impulsivität: ADHS und ADS werden bei Erwachsenen immer häufiger diagnostiziert. Eine Modeerscheinung? Fachleute gehen nicht davon aus – und erklären wann eine Therapie sinnvoll ist.
Es ist ein Wechsel zwischen Turbo-Modus und Totalblockade. So beschreiben viele Betroffene die Symptome ihrer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (ADS). Jetzt sind im Deutschen Ärzteblatt neue Zahlen zu den Diagnosen bei Erwachsenen veröffentlicht worden. Sie basieren auf einer Auswertung von Daten vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung.
Danach ist die Zahl der erstmals diagnostizierten AD(H)S-Fälle bei Erwachsenen in Deutschland zwischen 2015 und 2024 fast um das Dreifache gestiegen. Von 10.000 gesetzlich Versicherten werden heute etwa 26 im Jahr neu mit AD(H)S diagnostiziert, 2015 waren es nur neun.
Besonders betroffen sind demnach junge Erwachsene unter 40 Jahren. Unter ihnen wurden in den vergangenen Jahren deutlich mehr Diagnosen gestellt, vor allem bei jungen Frauen, die in dieser Altersgruppe stark aufgeholt haben.
Lange unterdiagnostiziert
Dass es so viel mehr Diagnosen bei Erwachsenen gibt, liegt laut Experten nicht daran, dass es auch mehr Betroffene gibt. Stattdessen waren ADHS und ADS gerade bei Erwachsenen lange unterdiagnostiziert.
Ein Hauptgrund könnte sein, dass man bis vor einigen Jahrzehnten davon ausgegangen ist, dass AD(H)S bei Erwachsenen gar nicht vorkommt und sich nach dem Kindesalter „verwächst“. Erst in den 1990er-Jahren hat sich langsam eine Diagnose für Erwachsene etabliert.
„Es ist anzunehmen, dass es sich bei vielen hier diagnostizierten Fällen um verspätete Diagnosen handelt“, sagt Swantje Matthies, Leiterin der Arbeitsgruppe ADHS und Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter am Universitätsklinikum Freiburg. „Das bedeutet: Die Betroffenen waren bereits im Kindesalter betroffen, wurden aber nicht diagnostiziert. Nun kommen sie ‚verspätet‘ im Erwachsenenalter zur Diagnostik.“
Frauen lange zu wenig diagnostiziert
Dass junge Frauen jetzt auch häufiger diagnostiziert werden, liegt ebenfalls nicht unbedingt daran, dass tatsächlich mehr Frauen betroffen sind. Vielmehr wurden die Symptome von ADHS und ADS bei Frauen lange Zeit häufig übersehen.
Die frühen Studien zu dem Thema basierten – wie so häufig im Gesundheitssystem – fast ausschließlich auf Daten von Jungen und Männern. Deshalb galten typisch männliche Symptome auch lange als allgemein typische AD(H)S-Symptome.
Inzwischen weiß man, dass sich AD(H)S bei Frauen und Mädchen, nicht immer, aber häufig, anders äußert als beim männlichen Geschlecht. Sie sind häufiger verträumt und unaufmerksam als hyperaktiv und impulsiv. „Mädchen und Frauen werden im Kindesalter seltener erkannt, weil ihre Symptome oft weniger auffällig sind. Daher holen junge Frauen jetzt die Diagnose häufiger nach“, sagt Swantje Matthies.
Nicht nur ein Hype
Das Thema AD(H)S ist in sozialen Medien in den vergangenen Jahren vermehrt präsent. Auch deshalb kommen junge Erwachsene schneller darauf, dass sie betroffen sein könnten.
Expertinnen und Experten gehen dennoch nicht davon aus, dass es sich bei der großen Zunahme von Diagnosen weitgehend um eine Modeerscheinung und Fehldiagnosen handelt. „Selbstdiagnosen führen sicherlich dazu, dass Diagnosen aus dem medizinischen System nachgefragt werden. Daraus einen Hype oder eine Pathologisierung von Normalität abzuleiten, ist jedoch nicht statthaft“, sagt dazu Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Diagnosestellung noch immer schwierig
Es gibt Schätzungen, wonach ungefähr 2,5 Prozent der gesamten erwachsenen Bevölkerung von AD(H)S betroffen sind. Dass es jetzt mehr neue Diagnosen im Erwachsenenalter gibt, wird daher eher als Zeichen gesehen, dass die Symptome inzwischen auch bei Erwachsenen als solche erkannt werden.
Insgesamt könnten ADHS und ADS noch immer unterdiagnostiziert sein. „Die Diagnostik und Versorgung von Erwachsenen mit ADHS ist in Deutschland weiterhin nicht zufriedenstellend: Diagnostik wird oft nur in Spezialsprechstunden angeboten und diese sind Großteils überlastet“, so Oliver Hennig vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim.
Symptome anders als bei Kindern
Die Hauptsymptome von ADHS im Erwachsenenalter sind dabei eine innere Unruhe, das Gefühl nie abschalten zu können und gerade monoton erscheinende Arbeiten immer weiter aufzuschieben und nicht zu erledigen. Betroffene berichten zum Beispiel darüber, sich in Meetings oder beim Lesen nicht konzentrieren zu können, ständig Termine zu vergessen und dass Haushalt oder das Ordnen von Finanzen sehr chaotisch ablaufen. Auch zwischenmenschliche Probleme, wie das ständige Bedürfnis, andere zu unterbrechen oder schnell sehr emotional zu reagieren, werden genannt.
Manchmal kommt bei Betroffenen auch Rastlosigkeit und ständiger Beschäftigungsdrang dazu. Im Vergleich zu ADHS fehlt bei ADS diese Hyperaktivität. Erwachsene mit ADHS sind insgesamt aber weniger hyperaktiv und impulsiv als gerade jüngere Kinder. Das liegt teilweise auch daran, dass sie sich mit der Zeit Strategien zurechtgelegt haben, wie sie damit im Alltag zurechtkommen können.
Nicht immer Therapie notwendig
Nicht immer ist nach einer Diagnose auch eine Therapie nötig. Denn manche Menschen kommen gut mit ihrem AD(H)S klar. Die Symptome sind bei Betroffenen unterschiedlich schwer ausgeprägt – daher wird die Störung auch als Spektrum verstanden. Und sie kann sogar Vorteile mit sich bringen, weil Menschen mit AD(H)S zum Beispiel in sogenannten Hyperfokus gehen können und extrem konzentriert arbeiten können, wenn sie sich für ein Thema interessieren.
Medikamente wirken zuverlässiger
Wenn man aber einen Leidensdruck hat, lohnt es sich, gerade auch Medikamente in Betracht zu ziehen. In einer kürzlich erschienen Metaanalyse wurde die Wirksamkeit von verschiedenen Therapieoptionen für Erwachsene verglichen. Danach helfen nur Medikamente, wie das vor allem unter Markennamen „Ritalin“ bekannte Methylphenidat oder Amphetamine verlässlich und schnell gegen Kernsymptome von ADHS, also Unruhe, Unaufmerksamkeit oder Impulsivität.
Andere Therapieformen, wie Psychotherapie, Verhaltensänderung oder Neurofeedback haben variable Ergebnisse gezeigt und insgesamt später und schwächer geholfen. Solche nichtmedikamentösen Verfahren sind bei der Therapie teilweise trotzdem wichtig, so Marcel Romanos vom Universitätsklinikum Würzburg: „Sekundäre Probleme wie etwa Beziehungsprobleme, reaktive Angst, soziale Konflikte am Arbeitsplatz, Probleme in der Erziehung von Kindern, aggressives Verhalten, aber auch sekundäre körperliche Krankheiten stehen im Verlauf oft im Vordergrund, und können oft mit Psychotherapie therapiert werden.“
Ärztliche Diagnose nötig
Wichtig ist bei allen Therapieformen, sich ärztlich beraten zu lassen und gerade bei der medikamentösen Therapie auch eine leitlinienkonforme Diagnose zu haben. Denn viele der verschriebenen Medikamente wirken bei Menschen ohne AD(H)S wie ein Aufputschmittel und können ernsthafte Nebenwirkungen erzeugen.
