
weltspiegel
Stand: 20.10.2025 20:41 Uhr
In der Ukraine stehen junge Männer vor einer schwierigen Entscheidung: Gehen sie zur Armee und ziehen in den Krieg – oder verlassen sie ihre Heimat? Zwei Studenten beantworten diese Frage ganz unterschiedlich.
Begleitet von einem Akkordeon übt eine Gruppe junger Ukrainerinnen und Ukrainer Volkstänze ein. Sie studieren Tanz, wollen Choreografen werden. Kostjantyn Kantemirov ist einer von nur drei Männern in der Klasse.
Das Tanzen hat er im Donbass gelernt. Für ihn ist es ein zentraler Teil seiner ukrainischen Identität. „Tanzen ist mein Leben. Wenn ich tanze, fühle ich mich anders“, sagt Kantemirov am Rande der Trainingseinheit. „Jeder Mensch hat seine Berufung – und das Tanzen ist meine.“
Kantemirovs Mutter ist nach Deutschland geflüchtet, sein Vater kämpft an der Front. Wie viele junge Männer in der Ukraine steht auch er vor einer schwierigen Entscheidung: seine Träume zurückstellen und in den Krieg ziehen – oder die Heimat verlassen und ein neues Leben anfangen.
Kantemirov hat sich entschieden: „Ich will in die Armee. Das ist jetzt mein Weg, um mein Vaterland zu verteidigen.“ Er werde den Eid schwören und sich den Streitkräften anschließen.
Rekrutierungsprogramm mit wenig Erfolg
Die Ukraine zieht junge Männer erst ab 25 Jahren verpflichtend ein. Kostjantyn Kantemirov ist 22 und muss nicht kämpfen – geht aber freiwillig ins Rekrutierungszentrum.
Weil dem ukrainischen Militär Soldaten fehlen, versucht der Staat seit Februar, junge Männer mit lukrativen Verträgen zu motivieren. Der Erfolg hält sich in Grenzen. Parallel dazu hat die Regierung erst vor kurzem beschlossen, dass Ukrainer zwischen 18 und 22 Jahren trotz des Krieges wieder legal ausreisen dürfen.
Es sei eine persönliche Entscheidung, meint Kantemirov. „Die einen entscheiden sich auszureisen, das ist ihre Entscheidung. Ich habe meine Wahl getroffen, weil ich nicht anders kann“, sagt der Tänzer, der jetzt zum Soldaten wird.
Kostjantyn Kantemirov sieht keine Alternative zu einem Dienst in der Armee – sagt aber auch, dies sei eine persönliche Entscheidung.
Was wird nach der Ausreise?
Auch Bohdan Mostovyj hat sich entschieden. Sein Onkel hat an der Front gekämpft und ist inzwischen als vermisst gemeldet. „Ich bin Patriot“, sagt Mostovyj. „Aber ich würde nicht sagen, dass ich bereit bin, jetzt in den Krieg zu ziehen. Ich sehe viele Probleme im System, die demotivierend für mich sind.“
Er hat kein Vertrauen in die verkrusteten Armeestrukturen. Der Student wird bald 20 und will – wie viele andere auch – das Land verlassen.
Er wolle mit seiner Freundin ausreisen, doch die habe große Angst vor diesem Schritt. „Für mich ist das emotional sehr schwierig, weil ich mit dieser Entscheidung die Verantwortung für zwei Menschen auf mich nehme und nicht nur für mich“, sagt Mostovyj. „Es ist sehr schwer, wegzugehen, ohne zu wissen, wie sich das eigene Leben weiterentwickeln wird.“
Bohdan Mostovyj denkt bei seiner Entscheidung, das Land zu verlassen und nicht zur Armee zu gehen, an seine Familie – und die Verantwortung für seine Freundin Sascha.
„Ich habe nur ein Leben“
Im Krieg leben, kämpfen oder gehen – das sind die Fragen, mit denen sich ukrainische Teenager auseinandersetzen müssen. Bohdan Mostovyj und seine Freundin Sascha versuchen, sich beim Klettern abzulenken.
Doch zwischen ihnen steht diese eine Frage: bleiben oder gehen? „Wenn Bohdan nicht darauf bestehen würde, würde ich hier bleiben. Trotz der Angriffe und trotz der Sorgen“, sagt Sascha. Während sie antwortet, schaut Bohdan Mostovyj nachdenklich auf den Boden.
Seine Antwort hat es in sich: „Wenn ich hier bleibe, besteht die Gefahr, dass meine Mutter ihren Sohn verliert und Sascha mich verliert. Ich habe nur ein Leben und möchte wenigstens noch ein bisschen leben“, sagt der 19-Jährige.
Bohdan Mostovyj und Sascha wollen leben. Zusammen, in Freiheit und Sicherheit. Ob sie dafür ihre Heimat verlassen müssen, wollen sie bis zum Frühjahr entscheiden.
Zu kurzfristig gedacht?
In der Nähe von Kiew bereiten sich neue Soldaten darauf vor, ihr Land zu verteidigen. Das Dilemma: Die Ukraine braucht Männer an der Front und Männer für ihre Zukunft. Die fehlende Strategie der Staates verunsichere die Menschen, kritisieren Beobachter wie Oleh Saakjan.
„Wir stopfen die einen Löcher und es entstehen neue. Jede Entscheidung löst einerseits ein konkretes Problem, schafft aber gleichzeitig eine ganze Reihe anderer Probleme“, sagt der Politikwissenschaftler.
Die Ukraine komme gar nicht dazu, an den Ursachen zu arbeiten, sondern sie kämpfe ständig im Krisenmodus mit den Folgen. Man könne in einem langen Abnutzungskrieg nicht in der Logik eines kurzen Krieges Entscheidungen treffen, kritisiert Saakjan.
Die Grenzen nur für junge Männer zu öffnen, reiche nicht aus. „Wir müssen die Grenze insgesamt für mehr Menschen öffnen“, fordert er.
Dafür brauche es bestimmte Bedingungen, bestimmte Regeln und bestimmte Strafen für Verstöße gegen diese Regeln. „Dennoch sollten wir die Grenze nicht vollständig für eine kleine Gruppe öffnen, sondern mit Auflagen für alle Ukrainer“, meint Saakjan. „Ansonsten wird jede Auswahl als Populismus der Regierung wahrgenommen oder als Privileg für bestimmte soziale Gruppen auf Kosten anderer.“
„Das ist kein Abschied“
Zurück auf dem Parkett der Tänzer. Kostjantyn Kantemirov tanzt heute zum vorerst letzten Mal für eine lange Zeit. Schon in wenigen Tagen wird er zum Soldaten ausgebildet. Er will Drohnenpilot werden.
Seine Kommilitoninnen sind überrascht. Für viele war es ein regelrechter Schock. „Kostja ist eine sehr wichtige Persönlichkeit in unserer Gruppe“, sagt Marija. Und Sofija ergänzt: „Er hat hier die kulturelle Front gehalten, und jetzt wird er die tatsächliche Front halten. Wir unterstützen ihn und werden auf ihn warten.“
Kantemirov sieht den Kriegsdienst für sich selbst als Pause. „Das ist kein Abschied. Ich komme wieder, und werde dann Kindern das Tanzen beibringen.“
Die persönliche Freiheit oder die Freiheit der Nation? Alle jungen Ukrainer müssen sich dieser Frage stellen. Es ist eine Entscheidung, die ihr Leben für immer prägen wird. Eine Entscheidung, die ihnen niemand abnehmen kann.