Es ist Andrea Henze anzusehen, wie groß die Erleichterung sein muss. Kein Stein, eher ein Steinkohlebergwerk dürfte ihr am Sonntagabend vom Herzen gefallen sein. Ihr Lächeln wirkt noch verhalten bis angespannt, als sie um kurz nach halb sieben in den großen Sitzungsaal im Gelsenkirchener Rathaus kommt. Draußen dämmert es schon. Drinnen erheben sich all ihre SPD-Genossen, stellen die bereits reichlich ausgeteilten Bierflaschen zur Seite und applaudieren. Der rote Balken auf der Leinwand ist längst riesig: 65 Prozent, am Ende wird es sogar noch ein Pünktchen mehr sein. Sie hat gewonnen, wird Oberbürgermeisterin der Stadt. „Dieser Wahlsieg ist nicht nur ein Erfolg für unsere Stadt“, sagt Henze in den Beifall hinein, das Lächeln jetzt breiter, „sondern vor allem ein Zeichen für unsere Demokratie.“ Darunter machen sie es nicht mehr in Gelsenkirchen.
Weiter hinten steht Evelyne Kirsch vom Ortsverein Gelsenkirchen-Horst-Nord, wie auf ihrer roten Wahlkampfweste zu lesen ist. „So’n Ergebnis, damit hab ich nicht gerechnet“, sagt sie. „66 Prozent, das is’ der Hammer.“ Sie pustet durch, ist eben direkt aus dem Wahllokal, wo sie Wahlhelferin war, zur Party ins Rathaus gehetzt. Gerade noch mal gut gegangen, dieser Sonntag. „Gott sei Dank!“
Es hatte nämlich durchaus die Möglichkeit bestanden, dass die AfD am Ende dieses Abends ihren ersten Oberbürgermeister in Westdeutschland stellt. 13,7 Millionen Wahlberechtigte durften in NRW vor zwei Wochen über Kommunalparlamente, Bürgermeister und Landräte abstimmen. In 148 Städten, Gemeinden und Kreisen ging es am Sonntag in Stichwahlen. In Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen, allesamt Ruhrgebietsgroßstädte, hatten es AfD-Kandidaten in die zweite Runde geschafft. Aber schon kurz nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr wird klar, dass das nichts wird. Nicht diesmal. Zu deutlich sind die anderen Kandidaten vorne.
Erfolg hatten Kandidaten, „die das klare Wort nicht scheuen“.
In Gelsenkirchen besiegt Henze ihren Gegner Norbert Emmerich. In Duisburg siegt Amtsinhaber Sören Link mit 78,6 Prozent gegen AfD-Mann Carsten Groß (21,4). In Hagen gewinnt CDU-Kandidat Dennis Rehbein nur unwesentlich weniger deutlich (71,7 Prozent) gegen Michael Eiche (28,3).
Später versucht sich SPD-Landeschefin Sarah Philipp draußen vor dem Ratssaal an einer Deutung dieses Abends. Sie hätten gesehen, sagt sie, dass vor allem die Kandidaten erfolgreich waren, „die das klare Wort nicht scheuen“. Diejenigen also, die Probleme beispielsweise mit Armutsmigration, Sozialhilfebetrug und Kriminalität offensiv ansprechen, wie Link, Henze und CDU-Mann Rehbein es getan haben in diesem Wahlkampf.
Und die SPD darf sich noch über einen weiteren bedeutenden Sieg freuen: Ihr Kandidat Torsten Burmester siegt in Köln, der größten Stadt des Bundeslands, der Millionenmetropole, relativ knapp gegen die Grüne Berîvan Aymaz. Die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker war nach zehn Jahren nicht mehr angetreten. Auch Oberhausen gewinnt die SPD von der CDU zurück.
Aber die Landesvorsitzende Philipp gibt zu: „Das ist jetzt nicht nur Licht und Gold am heutigen Abend.“ Vor allem das Ergebnis in Dortmund tut den Sozialdemokraten weh. Sie regieren die Stadt seit 1946 durchgehend. Jetzt fällt sie nach 79 Jahren an die CDU.
Für die Grünen wird Münster zum Trostpflaster
Eine Niederlage wie diese dürfte einige in der Partei dann doch wieder dran erinnern, dass auch der Wahlsonntag vor zwei Wochen jetzt nicht direkt ein Triumph war. Parteichefin Bärbel Bas, selbst Duisburgerin und an jenem Abend in ihrer hart umkämpften Heimatstadt, hatte ihrer SPD da noch bescheinigt, das befürchtete Desaster sei ausgeblieben. Bemerkenswert angesichts eines Landesergebnisses von 22 Prozent, das schlechteste bei Kommunalwahlen in NRW jemals.
Bei der CDU war da schon praktisch gänzlich Partystimmung, mit 33,3 Prozent landesweit klar Platz eins und in der ersten Rutsche sichere Siege in vielen Gemeinden und Kreisen im Rhein-, Sauer- und Münsterland. Man sei „Kommunalpartei Nummer 1“, freute sich CDU-Landeschef und Ministerpräsident Hendrik Wüst. Der Sieg in Dortmund am Sonntag mit ihrem Kandidaten Alexander Omar Kalouti dürfte die Christdemokraten jetzt noch mal besonders erfreuen. Und noch mehr: In Düsseldorf verteidigt CDU-OB Stephan Keller sein Amt souverän, in Essen genauso Thomas Kufen. In Bonn gewinnt Guido Déus knapp gegen die Grünen-Amtsinhaberin Katja Dörner. Und in Bielefeld besiegt CDU-Kandidatin Christiana Bauer ihren SPD-Kontrahenten.
Dafür verliert die CDU allerdings in Münster. Für die Grünen wird die Uni- und Fahrradstadt zu so etwas wie einem Trostpflaster. In Köln und Bonn verloren, dazu in Düsseldorf und Aachen, im bisher grün regierten Wuppertal nicht mal in die Stichwahl gekommen: Da ist der Sieg für Tilman Fuchs in Münster das einzige Ergebnis, das die Stimmung in der Partei an diesem Abend wenigstens ein wenig heben kann. Schon vor zwei Wochen waren die Grünen mit 13,5 Prozent landesweit absolut nicht zufrieden. Jetzt sind bis auf Münster nicht mal die erhofften Prestigesiege in den Großstädten gelungen.
Prestigesiege wären die drei Oberbürgermeisterposten in Gelsenkirchen, Duisburg und Hagen natürlich auch für die AfD gewesen. In allen drei Städten allerdings haben vor den Stichwahlen die SPD- beziehungsweise CDU-Kandidaten die Unterstützung der allermeisten ausgeschiedenen Parteien bekommen. Insofern war damit zu rechnen, dass die AfD höchstwahrscheinlich unterliegen würde.
Ihr Gelsenkirchener Kandidat Norbert Emmerich, ein 72 Jahre alter Finanzberater, lächelt am Sonntagabend trotzdem zufrieden. Er steht in einer Ecke eines Sitzungssaals zwei Stockwerke über der SPD bei der AfD-Party und sagt, er habe doch nichts zu verlieren gehabt. Und 33 Prozent, das seien noch mal acht Punkte mehr als die 25 Prozent, die sie bei der Bundestagswahl hier geholt haben. Ein Parteikollege schüttelt ihm die Hand, der Blick eher mitleidig, fragt: „Und?“. Emmerich: „Ist doch Klasse, du!“ Ihn freut das Ergebnis wirklich.
Dann ruft Enxhi Seli-Zacharias, Vizefraktionschefin der AfD im Landtag, ebenfalls aus Gelsenkirchen, ins Mikro: „Das ist ein Wahlerfolg sondergleichen!“ Applaus im Saal. „Und wir versprechen ganz deutlich: Das ist der Anfang einer ganz neuen Geschichte für unsere Stadt!“ Die AfD habe jetzt fünf Jahre Zeit, um sich aufzustellen für die nächste Wahl. Im Stadtrat sind SPD und AfD jetzt gleich stark, beide haben 20 Sitze. Auf 405 Stimmen war der Vorsprung der SPD bei der Abstimmung über den Rat vor zwei Wochen zusammengeschmolzen. Darauf heben sie bei der AfD-Party jetzt die Sektgläser.