Stand: 08.12.2025 15:20 Uhr
Ein Gutachten offenbart erstmals das Ausmaß des Missbrauchs im Bistum Passau: Mindestens 672 Kinder und Jugendliche sind seit 1945 Übergriffen durch Priester ausgesetzt gewesen. Die Dunkelziffer könnte noch höher liegen.
Von Andrea Neumeier, Martin Gruber
Nach München, Würzburg und Augsburg hat nun auch die vierte bayerische Diözese, das Bistum Passau, eine Missbrauchsstudie veröffentlicht. Drei Jahre lang hat ein Team der Universität Passau unter der Leitung des Historikers Marc von Knorring rund 2.400 Priester-Personalakten durchforstet und mit 25 Missbrauchs-Betroffenen und 35 Zeitzeugen gesprochen. Die Studie, die den sexuellen Missbrauch im Bistum Passau aufarbeiten soll, wurde im Auftrag der örtlichen Unabhängigen Aufarbeitungskommission erarbeitet. Die Kosten übernahm die Diözese Passau.
672 Betroffene und 128 Beschuldigte
Die Studie umfasst den Zeitraum 1945 bis 2022. Demnach gibt es in diesem Zeitraum „wenigstens 672 Betroffene“ und rund 128 Missbrauchsbeschuldigte und -täter. Das seien im Verhältnis „nur wenig mehr als laut anderen Studien in anderen Bistümern“.
Von den beschuldigten Geistlichen seien 86 Prozent Mehrfachbeschuldigte. Das bedeutet, dass sie mehrere Personen oder eine Person mehrfach missbraucht hätten. Dreiviertel der Betroffenen waren mutmaßlich mehrfachen Übergriffen ausgesetzt. Missbrauch hätten die Betroffenen vor allem im Internat, in Heimen, im Religionsunterricht und beim Ministranten-Dienst erlebt. Betroffene leiden der Studie zufolge bis heute vor allem unter fehlendem Selbstbewusstsein und Unsicherheit, Schlafstörungen, Albträumen, gestörten Sozialbeziehungen und Depressionen.
Behandlung von Missbrauch „nach Gutdünken“
Die Betroffenen, die durch Priester in Pfarrgemeinden Missbrauch erfahren hätten, sind zu 59 Prozent männlich und zu 41 Prozent weiblich. Betroffene, die von Ordensgeistlichen missbraucht worden sein sollen, sind zu 94 Prozent männlich. Die Gründe dafür dürften wohl sein, dass in Heimen und Internaten vor allem Jungen gelebt haben und es Mädchen lange nicht erlaubt war, zu ministrieren.
Die Studie beschäftigt sich auch intensiv mit den Passauer Bischöfen, ihren Generalvikaren und dem Umgang mit Missbrauchsvorwürfen. Die meisten Missbrauchsfälle stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unter Bischof Simon Konrad Landersdorfer. Damals seien Missbrauchsfälle nur „nach Gutdünken“ dokumentiert und die „festgelegte Pflicht zur Meldung nach Rom“ umgangen worden.
Ab den 1960er-Jahren schaute die Justiz beim Thema Missbrauch genauer hin. Unter Bischof Antonius Hofmann sanken die Zahlen drastisch, auch weil die „Dokumentation ganz bewusst dünn gehalten“ worden sei, so die Forscher. Auch unter Bischof Franz Xaver Eder blieben die Zahlen niedrig. Insgesamt seien wenig Missbrauchsfälle dokumentiert worden – wenn, dann aber sehr ausführlich. Eder habe den Schrank mit Missbrauchsfällen als „Giftschrank“ bezeichnet. Die Studienmacher kritisieren bei Franz Xaver Eder und Antonius Hofmann ein „enges Nähe-Verhältnis zum Klerus“, das hinderlich bei der angemessenen Behandlung von Missbrauchsvorwürfen gewesen sei.
Bischof Schraml: „Wandel zum Besseren“
Erst mit der Amtsübernahme von Bischof Wilhelm Schraml hätte ab 2002 ein „Wandel zum Besseren“ eingesetzt. Schrittweise sei eine „geregelte Präventionsarbeit“ mit einer „eigenen Abteilung“ aufgebaut worden. Grund dafür dürfte auch sein, dass Anfang der 2000er-Jahre die gemeldeten Fälle wieder anstiegen, das mediale und öffentliche Interesse zunahm. Die Aktenüberlieferung sei seit Schramls Amtsantritt „deutlich reichhaltiger“, auch wenn es noch immer Lücken gebe, so die Studie. Generalvikar Lorenz Hüttner machte sich schon lange vor den ersten Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz daran, „Grundsätze für den Umgang mit Missbrauchsfällen schriftlich festzulegen“.
Oster: Umgang mit Thema in der Öffentlichkeit
Unter Bischof Wilhelm Schraml seien die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz strukturell umgesetzt worden. Trotzdem sei auch für Schraml das Bild der Institution Kirche und das Mitgefühl mit Missbrauchsbeschuldigten im Vordergrund gestanden.
Unter Bischof Oster seien die Zahlen dann „auf einen historischen Tiefstand“ gesunken. Als Grund vermuten die Studienmacher den Wegfall der Kriegsgeneration – viele Missbrauchsbeschuldigte seien Teil der Kriegsgeneration gewesen und mittlerweile verstorben. Gleichzeitig kritisieren Zeitzeugen und Betroffene Bischof Oster für seinen öffentlichen Umgang mit dem Thema Missbrauch. Der Bischof habe „die wahre Dimension von Missbrauch und dessen Folgen noch nicht realisiert“. Ein Problem sei auch, „wie man das Thema in die Fläche bringen kann“, also der Umgang mit dem Thema in der Öffentlichkeit.
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Quelle: Mittags in Niederbayern und Oberpfalz 08.12.2025 – 12:00 Uhr








