Stand: 06.09.2025 06:37 Uhr
Für Kinder in Gaza beginnt das neue Schuljahr ohne Klassenzimmer: 95 Prozent der Schulen sind zerstört, 660.000 Kinder betroffen. Initiativen versuchen, trotz des Krieges Unterricht zu ermöglichen.
„Lang lebe das freie Palästina. Macht euch bereit für die Nationalhymne“, ruft ein Lehrer. Einige Dutzend Kinder sind in Reihen aufgestellt. Sie hören der Musik zu, die aus einem Lautsprecher dröhnt. Der zwölfjährige Murad hat einen der wenigen Plätze im Unterricht ergattert, hier in der Al-Awda Schule in einem Bezirk von Gaza Stadt, wo in dieser Woche die Schule begonnen hat – mitten im Krieg.
„Es kann hier jederzeit gefährlich werden, sie könnten die Schule angreifen. Aber ich komme, weil es schön ist, meine Freunde zu sehen“, sagt er. „Wir sind traurig, weil es keine Stühle gibt, und es zu heiß ist im Zelt. Aber ich lerne gern.“ Sein Traum sei es, Arzt zu werden. „Ich wünsche mir, dass der Krieg endet und ich draußen spielen, im Meer schwimmen und mein Leben leben kann“, sagt Murad.
Sicherheit beim Lernen gibt es in Gaza nicht
Ein Traum, der weit weg ist: Hier im Plastikzelt wird gelernt – am Boden. Murad sagt, er rechne jederzeit damit, dass die Schule von der israelischen Armee angegriffen wird. Erst am Freitag zerstörte die Armee unter anderem ein Hochhaus in Gaza-Stadt, drohte damit, weitere Gebäude zu zerstören.
„Der Krieg ist allgegenwärtig. Dass sich Kinder beim Lernen sicher fühlen, so etwas gibt es hier nicht“, warnt Dan Stewart, der für die Kinderhilfsorganisation Save the Children in Gaza ist. Ihm und UN-Angaben zufolge sind mehr als 95 Prozent der Schulen in Gaza beschädigt oder zerstört. Auch werden Schulgebäude als Flüchtlingsunterkünfte genutzt.
Eine verlorene Generation
Mehr als 660.000 Kinder im schulfähigen Alter hätten gar keinen Schulunterricht. Das sei fast die gesamte schulfähige Bevölkerung in Gaza und ein Großteil der Gesamtbevölkerung, so Stewart: „Gaza leidet unter einer Bildungskrise, die es so noch nie gegeben hat. Mit dem Beginn des neuen Schuljahrs beginnt das dritte Jahr, in dem Kindern ihr Grundrecht auf Bildung genommen wird.“
„Langfristig zerstört das die soziale, kulturelle und finanzielle Lebensgrundlage der palästinensischen Gesellschaft“, warnt Stewart. „Die Folgen wird eine ganze Generation tragen.“ Eine verlorene Generation. Ehemalige Lehrer geben wie im Lernzelt von Al-Awda freiwillig Unterricht, um etwas dagegen zu tun.
Initiativen wollen Wissen zurückbringen
Ein Tropfen auf den heißen Stein, sagt der Schuldirektor der Al-Awda Zeltschule und ehemaliger Fakultätsleiter an der palästinensischen Universität in Gaza, Nigad Abdelfatah Badriyeh. Als sie die Schule eröffnet hätten, sei die Nachfrage so groß gewesen, dass sie sich bei Hunderten Eltern entschuldigen mussten, weil sie niemanden mehr aufnehmen konnten, erzählt er.
„Seit 23 Monaten bleibt unseren Schülern der Unterricht verwehrt. Wie ungerecht. Die israelischen Besatzer wollen, dass wir dumm bleiben und nichts lernen“, sagt Nigad Abdelfatah Badriyeh. „Wir haben diese Schule eröffnet, um das Wissen zurückzubringen.“
Leben in kaputten Schulen, statt sie zu besuchen
Etwas mehr als 1.000 Schüler versuchen, Badriyeh und seine Helfer im Krieg zu betreuen. Erst gestern sei ein Drittklässler getötet worden, davor fünf weitere Schüler. Im vergangenen Monat ein Lehrer. Aber Nigad Abdelfatah Badriyeh will weitermachen. Laut Save the Children mussten etwa 400 Hilfsinitiativen wegen Angriffen, Zerstörung oder fehlender Finanzierung allein in diesem Jahr schließen.
Und so sucht Diana Mustafa Shalhah, die als Flüchtlingskind im Westen von Gaza-Stadt lebt, in den Trümmern nach Kleidung, Essen oder Brennholz, statt zum Unterricht zu gehen, sagt das junge Mädchen: „Anstatt zur Schule zu gehen, leben wir nun in den kaputten Schulen. Wir tragen Tüten mit gesammelter Kleidung dorthin statt unserer Schultaschen. Wir lernen und spielen nicht. Es gibt keinen Unterricht mehr. Als Flüchtlinge essen und schlafen wir nur noch dort.“
Und möglicherweise muss auch sie in Kürze erneut flüchten, denn die israelische Armee hat alle Bewohner von Gaza-Stadt aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, um die Stadt einzunehmen. In den kommenden Wochen werden dort heftige Kämpfe erwartet.