exklusiv
Stand: 13.10.2025 05:23 Uhr
Seit Beginn des Kriegs bitten Tausende Menschen aus Gaza online um private Spenden. Doch die Umstände laden zum Betrug ein. Laut NDR-Recherchen erschlich eine Gruppe mutmaßlicher Betrüger aus Gaza Spenden in Millionenhöhe.
Von Alice Echtermann, Duc Hai Le, Anna Priese, NDR
Der junge Mann im Rollstuhl schaut ernst in die Kamera. Aus den Hosenbeinen seiner Shorts schauen zwei vernarbte Stümpfe hervor. „Friede sei mit euch“, sagt er auf Arabisch. „Danke für eure Spenden und dafür, dass ihr mir in den letzten Monaten zur Seite gestanden habt.“ Der 17-jährige Ahmed Al-Ghalban aus Gaza veröffentlichte das Video im Juli 2025 auf seinem Instagram-Account mit mehr als 300.000 Followern.
Dort berichtet er, wie er im Frühjahr beide Beine und mehrere Finger durch einen Angriff der israelischen Armee verloren habe. Über Spendenplattformen wie GoFundMe oder Chuffed bitten er und seine Familie um Hilfe – auf diese Weise sammelte er bereits mehrere Zehntausend Euro.
Identität gestohlen
Doch im September tauchte das Video von Ahmed im Rollstuhl plötzlich auf einem gefälschten X-Account namens „Ahmed Gaza“ auf. Das Profil verwendet die Fotos und Videos des Jugendlichen und ruft zu Spenden an einen Paypal-Account auf. Nach NDR-Recherchen stahlen Betrüger die Identität von Ahmed Al-Ghalban. Anstatt an Ahmed ging das Geld an sie.
Das ist kein Einzelfall. Der Fake-Account weist Verbindungen zu rund 20 X-Profilen auf, die im September offenbar koordiniert denselben Spendenaufruf und denselben Paypal-Account verbreiteten. Sie kopierten die Inhalte von Palästinensern aus den Sozialen Netzwerken. In zwei Fällen erhielt der NDR von diesen echten Personen eine Bestätigung, dass es sich bei den X-Profilen um Fälschungen handle. Eine Presseanfrage ließ X inhaltlich unbeantwortet, sperrte jedoch die Accounts.
Die Spur der Fake-Accounts führt zu einer Gruppe mutmaßlicher Betrüger, die sich offenbar selbst in Gaza aufhält. Über Crowdfunding-Plattformen, Paypal oder Crypto-Währungen sammelten sie nach NDR-Recherchen seit Kriegsbeginn offenbar Spenden in Millionenhöhe.
Die Spur führt zu einer Familie in Gaza
Ausgangspunkt der Recherche ist ein Mann namens Ahmad Khaled A. Sein Spendenaufruf wurde von den Fake-Accounts verbreitet. Ausgehend von seinen Social-Media-Aktivitäten konnte der NDR sechs weitere Personen identifizieren, die offenbar zur selben Familie gehören und in Gaza leben.
Die Fake-Accounts sind nur eine Masche dieser mutmaßlichen Betrüger. Sie geben auch vor, mehrere verschiedene Hilfsinitiativen in Gaza zu betreiben – aber sie posten Fotos und Videos von identischen Aktionen. Zum Beispiel zeigte Ahmad Khaled A. Anfang September in einem Video, wie er mit einem Fahrzeug Wasser im Ort Deir Al-Balah ausschenkt. Er trägt eine gelbe Warnweste, auf deren Rücken das Logo seiner Initiative „Waves of Solidarity“ steht.
Nur einen Tag später postete ein Mann namens Muhammad Khaled A. auf X ein Video derselben Szene, um wiederum Spenden für eine andere Initiative namens „Muhammad Khaled Relief Foundation“ zu sammeln. Die Videos zeigen: die Männer waren zur selben Zeit am selben Ort, aber filmten so, dass sie gegenseitig nicht zu sehen waren. Der NDR konnte mehrere solcher Beispiele für die verschiedenen Familienmitglieder nachweisen. Die beiden Männer reagierten auf Anfragen nicht.
Verdächtige Krypto-Geschäfte
Muhammad Khaled A. sammelt besonders erfolgreich Spenden über die Plattform GoFundMe. Er und die anderen Familienmitglieder rufen auch intensiv dazu auf, Geld direkt per Krypto-Währung zu senden. Diese Krypto-Geschäfte zeigen: Das Ganze geht mutmaßlich über die Aktivitäten von Kleinkriminellen hinaus.
Im Zentrum der Aktivitäten der Familie steht offenbar eine Initiative namens Bitcoin for Palestine, gegründet von einem Mann mit dem Namen Yusef Mahmoud A. Er soll der Onkel von Muhammad Khaled A. sein, die beiden arbeiten zusammen. Bitcoin for Palestine wurde 2023 vor dem Krieg gegründet und 2024 in der Krypto-Branche als lebensrettende Initiative gefeiert.
Doch an der Initiative wurde Anfang des Jahres Kritik laut: Auf X erhoben ehemalige Unterstützer schwere Betrugsvorwürfe. Ein ägyptischer Bitcoin-Unternehmer schrieb auf X, er habe zwei Millionen US-Dollar in Bitcoin for Palestine investiert. Yusef Mahmoud A. habe das Geld aber zum größten Teil für sich selbst verwendet und Autos und Waffen gekauft. Yusef Mahmoud A. bestreitet auf X diese Vorwürfe. Auf eine schriftliche Anfrage antwortete er, er werde diffamiert.
Hohe Summen
Dem NDR liegen zahlreiche Indizien und Aussagen eines Insiders vor, die die Annahme stützen, dass allein an Bitcoin for Palestine Spenden in Millionenhöhe geflossen sind. Andere Spendenaufrufe der Familienmitglieder summieren sich nach NDR-Recherchen zusätzlich etwa auf eine halbe Million Dollar.
Die Familie führt offenbar einzelne Hilfsangebote wie das Ausschenken von Wasser durch. Belastbare Belege über die Verwendung der hohen Spendensummen fehlen jedoch. Und es bleibt die Frage, weshalb die Beteiligten zu irreführenden Methoden wie der mehrfachen Verwendung des Videomaterials und Fake-Accounts auf X greifen. Hierzu äußerten sich die Beteiligten auf Nachfrage nicht.
Schwachstelle großer Crowdfunding-Plattformen
Der Fall offenbart eine Schwachstelle großer Crowdfunding-Plattformen wie Chuffed aus Australien und GoFundMe. Seit Beginn des Gaza-Kriegs gibt es Tausende Aufrufe für private Spenden an Familien in Gaza. GoFundMe teilte auf Nachfrage mit: „In Deutschland wurden seit dem Terrorangriff am 7. Oktober etwa 12.000 Spendenaktionen im Zusammenhang mit der Krise im Nahen Osten auf GoFundMe gestartet, mit einem Gesamtspendenvolumen von rund 32 Millionen Euro.“
Die Plattformen führen nach eigenen Angaben Überprüfungen durch, um Betrug zu verhindern. Dabei geht es aber offenbar vor allem darum sicherzustellen, dass der Spendenbegünstigte wirklich eine Person aus Gaza ist. Die mutmaßlichen Betrüger in Deir Al-Balah konnten dieses Kriterium problemlos erfüllen. So war zum Beispiel die „Muhammad Khaled Relief Foundation“ in der Lage, auf GoFundMe seit März 2024 mehr als 50.000 Dollar an Spenden zu sammeln.
Plattformen prüfen Betrugsvorwürfe
GoFundMe kündigte auf Nachfrage eine Untersuchung an. Die Spendenseite von Ahmad Khaled A. wurde im Zuge dessen bereits entfernt. „Wenn unser Prüfprozess eine Spendenaktion, Geldfluss oder deren Begünstigte nicht eindeutig verifizieren kann, wird die Kampagne entfernt“, schrieb eine Sprecherin. Betroffene Spender erhielten entweder automatisch eine Rückerstattung oder würden über ihren Anspruch informiert.
Auch Chuffed entfernte mittlerweile mehrere verdächtige Spendenaufrufe. Chuffed-Managerin Jennie Smith betonte, die Plattform nehme sowohl Maßnahmen gegen Betrug als auch die Verantwortung gegenüber den Menschen in Gaza ernst. Manchmal sähen auch legitime Spendenaufrufe wie Spam aus, diese seien „Zeichen verzweifelter Familien, die um Unterstützung bitten.“ Es sei daher wichtig, jeden Betrugsvorwurf genau zu prüfen.
Zurück zu Ahmed Al-Ghalban, dem Jugendlichen, der seine Beine verloren hat und Opfer des Identitätsdiebstahls wurde: Er lebt inzwischen in Italien. Gemeinsam mit seiner Familie wurde er im Sommer von der Weltgesundheitsorganisation und der italienischen Regierung aus dem Gazastreifen evakuiert. Videos auf seinem Instagram-Kanal zeigen seine ersten Gehversuche mit Beinprothesen. Er sammelt weiter Spenden für sein neues Leben.