Susanne Baer war Richterin am Verfassungsgericht. Ein Gespräch über ihren Weg ins höchste Amt und darüber, wie selbst in Karlsruhe eine Krise der Wahrheit spürbar ist.
Susanne Baer war Richterin am Bundesverfassungsgericht und ist Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, der London School of Economics und an der University of Michigan. Dieses Interview basiert auf Auszügen eines Gesprächs im Rahmen des ZEIT-Krisenpodcasts „Auch das noch?“.
DIE ZEIT: Frau Baer, das Bundesverfassungsgericht war für viele lange eine Blackbox. Spätestens aber seitdem die Union sich geweigert hat, Frauke Brosius-Gersdorf als Richterin zu wählen, steht es im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nun scheint der große Konflikt zunächst beigelegt zu sein, denn es ist mit Sigrid Emmenegger eine neue Kandidatin nominiert. Hat das Bundesverfassungsgericht als Institution Schaden genommen?
Susanne Baer: Nein. Und es ist zu hoffen, dass es dabei bleibt.
ZEIT: Teile der CDU haben sich geweigert, Frau Brosius-Gersdorf zu wählen, weil ihnen ihre politische Position nicht passte. Wie politisch dürfen Juristinnen sein, bevor sie Verfassungsrichterinnen werden?
Baer: So politisch wie alle anderen auch. Entscheidend ist ja, dass sie willens und in der Lage sind, dem Amt gerecht zu werden. Als Richterin, als Richter zählt dann nur das Grundgesetz. Und noch dazu lebt das Bundesverfassungsgericht davon, dass dort Menschen sitzen, die unterschiedlich auf die Welt blicken, aber dann zusammenfinden – so ist das Wahlverfahren gestaltet und gemeint. Es gehört also gerade dazu, andere Positionen als die eigene zu akzeptieren – denn die Mischung ist es, die es macht.
ZEIT: Ist es ein Problem, wenn über die Wahl der künftigen Richterinnen und Richter auch künftig öffentlich diskutiert wird, bevor der Bundestag über sie entscheidet?
Baer: Mich beunruhigt, wie das jetzt gelaufen ist. Die Richterwahl am Bundesverfassungsgericht ist von enormem Gewicht. In ihrer zwölfjährigen Amtszeit entscheiden die 16 Richterinnen und Richter auch über Gesetze – und das sind sehr weitreichende und langfristige Entscheidungen. Eine derart mächtige Institution verlangt eigentlich eine frühe und konsensuale Einigung auf die Kandidatinnen und Kandidaten. Aber es ist offensichtlich schwieriger geworden, in den heutigen politischen Verhältnissen im Bundestag solide Mehrheiten für wichtige Entscheidungen zu finden. Besonders schockierend war aber, wie mit einer qualifizierten Frau wie Frauke Brosius-Gersdorf umgegangen wurde – und wie Hetzkampagnen im Netz kurzfristig Wirkung entfalten können.
ZEIT: Viele Leute waren überrascht, dass der Bundestag überhaupt die Richterinnen und Richter wählt – was ja vor allem daran lag, dass das in der Vergangenheit meist geräuschlos funktionierte.
Baer: Ja. Traditionell entscheiden Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit über die Besetzung. Das ist bei uns ganz anders als etwa in den USA, wo ein Präsident die Richterinnen und Richter allein und noch dazu auf Lebenszeit ernennen kann. Das ist eindeutig keine gute Idee. Bei uns müssen Mehrheit und Opposition zusammenarbeiten, und das macht die Besetzung deutlich weniger parteipolitisch. Es wird ja häufig die Frage gestellt, ob das Gericht nicht selbst auch ein politischer Akteur ist. Das ist es eben nicht. Aber es mischt sich durch seine Urteile immer wieder in die Politik ein. Auch wenn diese Einmischung eine juristische ist und keine politische, braucht das Gericht den großen Rückhalt in der Politik.
ZEIT: Wie haben Sie Ihre eigene Berufung erlebt? Hat da jemand angerufen und gefragt: Wollen Sie Verfassungsrichterin werden?
Baer: Es gab tatsächlich den Anruf, wie beim Nobelpreis. Ich hatte damit nie gerechnet. Aber irgendwann wurde ich angerufen und gefragt, ob ich mal zu einem Termin im Büro von Renate Künast kommen könne, sie war damals für die Grünen im Deutschen Bundestag. Ich dachte, es sei eine der üblichen Fragen, gehe also um ein Gutachten, aber dann bot sie mir an, mich für das Bundesverfassungsgericht vorzuschlagen. Das hat mich und viele andere wirklich überrascht. Die Grünen durften damals ja erst zum zweiten Mal eine Kandidatin vorschlagen, und ich hatte nicht das Mainstream-Profil, hatte mich für Gleichstellung und gegen Diskriminierung engagiert – noch dazu damals in der einzigen Jura-Professur für Gender Studies der Bundesrepublik. Das war damals nicht einfach, aber heute toben Kulturkämpfe um Begriffe wie „Gender“ und um die Frage, ob man in Texten „gendern“ sollte oder gar darf. Was noch dazu kam: Ich habe über meine Liebe nie gelogen – ich bin mit einer Frau verheiratet.
Auch das noch? – Der freundliche Krisenpodcast: Recht sprechen in der „Wahrheitskrise“
ZEIT: Mussten Sie damals öffentlichen Gegenwind fürchten?
Baer: Natürlich gab es auch früher Diskussionen in den Parteien, weil jemand zu links, zu rechts, zu konservativ, zu dies oder zu das war. Irgendjemandem gefällt ein Kandidat oder eine Kandidatin eben immer nicht. Und ja, es hat auch schon Kandidatinnen und Kandidaten gegeben, die abgelehnt worden waren – aber in der Regel hat sich eine Gruppe von kundigen Abgeordneten auf eine Auswahl geeinigt. Grundsätzlich anders ist allerdings: Es gab damals noch keine sozialen Netzwerke, über die Kampagnen so wie heute hätten initiiert werden können. Beschäftigt hat mich die mögliche öffentliche Reaktion schon damals, aber ich bin erst mal nach Hause geradelt und habe meine Frau gefragt, ob wir zu dem Schritt bereit sind. Wir haben dann gemeinsam überlegt, ob wir den öffentlichen Gegenwind aushalten wollen.
ZEIT: Und warum haben Sie dann doch Ja gesagt?
Baer: Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichts, hat einmal gesagt, dass es Fragen gibt, auf die das Nein sehr schwerfallen dürfte.
ZEIT: Sie haben sich dann bei den Fraktionen vorgestellt, auch bei der CDU/CSU?
Baer: Ja, auch bei der CDU und CSU. Das hat bei Frau Brosius-Gersdorf gefehlt, und das war fahrlässig. In den Gesprächen wurden mir damals auch sehr persönliche Fragen gestellt – nach Religion, Privatleben –, was grenzwertig war. Aber ich hatte den Eindruck, die Abgeordneten wollten wirklich wissen, wer da kommt. Ich weiß auch, dass an dem Abend sehr lange und kontrovers diskutiert wurde und meine Wahl überhaupt kein Selbstläufer war. Ich zweifelte sehr, ob ich gewählt werden würde, auch weil ich auf eine Frage hin ganz offen erklärt hatte, was die heteronormativen Probleme der Institution der Ehe sind.
ZEIT: Wäre Ihre Wahl heute noch unwahrscheinlicher?
Baer: Das weiß ich nicht, denn auch damals waren Leute im Raum, die genauso konservativ dachten wie einige derjenigen, die sich im Sommer bei Brosius-Gersdorf exponiert haben. Was ich wohl vermitteln konnte, ist eine sehr hohe Achtung vor den Politikerinnen und Politikern, und dass ich den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers wirklich sehr, sehr ernst nehme. Das tue ich bis heute.
Susanne Baer war Richterin am Verfassungsgericht. Ein Gespräch über ihren Weg ins höchste Amt und darüber, wie selbst in Karlsruhe eine Krise der Wahrheit spürbar ist.
Susanne Baer war Richterin am Bundesverfassungsgericht und ist Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, der London School of Economics und an der University of Michigan. Dieses Interview basiert auf Auszügen eines Gesprächs im Rahmen des ZEIT-Krisenpodcasts „Auch das noch?“.
DIE ZEIT: Frau Baer, das Bundesverfassungsgericht war für viele lange eine Blackbox. Spätestens aber seitdem die Union sich geweigert hat, Frauke Brosius-Gersdorf als Richterin zu wählen, steht es im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nun scheint der große Konflikt zunächst beigelegt zu sein, denn es ist mit Sigrid Emmenegger eine neue Kandidatin nominiert. Hat das Bundesverfassungsgericht als Institution Schaden genommen?
Susanne Baer: Nein. Und es ist zu hoffen, dass es dabei bleibt.
ZEIT: Teile der CDU haben sich geweigert, Frau Brosius-Gersdorf zu wählen, weil ihnen ihre politische Position nicht passte. Wie politisch dürfen Juristinnen sein, bevor sie Verfassungsrichterinnen werden?
Baer: So politisch wie alle anderen auch. Entscheidend ist ja, dass sie willens und in der Lage sind, dem Amt gerecht zu werden. Als Richterin, als Richter zählt dann nur das Grundgesetz. Und noch dazu lebt das Bundesverfassungsgericht davon, dass dort Menschen sitzen, die unterschiedlich auf die Welt blicken, aber dann zusammenfinden – so ist das Wahlverfahren gestaltet und gemeint. Es gehört also gerade dazu, andere Positionen als die eigene zu akzeptieren – denn die Mischung ist es, die es macht.
ZEIT: Ist es ein Problem, wenn über die Wahl der künftigen Richterinnen und Richter auch künftig öffentlich diskutiert wird, bevor der Bundestag über sie entscheidet?
Baer: Mich beunruhigt, wie das jetzt gelaufen ist. Die Richterwahl am Bundesverfassungsgericht ist von enormem Gewicht. In ihrer zwölfjährigen Amtszeit entscheiden die 16 Richterinnen und Richter auch über Gesetze – und das sind sehr weitreichende und langfristige Entscheidungen. Eine derart mächtige Institution verlangt eigentlich eine frühe und konsensuale Einigung auf die Kandidatinnen und Kandidaten. Aber es ist offensichtlich schwieriger geworden, in den heutigen politischen Verhältnissen im Bundestag solide Mehrheiten für wichtige Entscheidungen zu finden. Besonders schockierend war aber, wie mit einer qualifizierten Frau wie Frauke Brosius-Gersdorf umgegangen wurde – und wie Hetzkampagnen im Netz kurzfristig Wirkung entfalten können.
ZEIT: Viele Leute waren überrascht, dass der Bundestag überhaupt die Richterinnen und Richter wählt – was ja vor allem daran lag, dass das in der Vergangenheit meist geräuschlos funktionierte.
Baer: Ja. Traditionell entscheiden Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit über die Besetzung. Das ist bei uns ganz anders als etwa in den USA, wo ein Präsident die Richterinnen und Richter allein und noch dazu auf Lebenszeit ernennen kann. Das ist eindeutig keine gute Idee. Bei uns müssen Mehrheit und Opposition zusammenarbeiten, und das macht die Besetzung deutlich weniger parteipolitisch. Es wird ja häufig die Frage gestellt, ob das Gericht nicht selbst auch ein politischer Akteur ist. Das ist es eben nicht. Aber es mischt sich durch seine Urteile immer wieder in die Politik ein. Auch wenn diese Einmischung eine juristische ist und keine politische, braucht das Gericht den großen Rückhalt in der Politik.
ZEIT: Wie haben Sie Ihre eigene Berufung erlebt? Hat da jemand angerufen und gefragt: Wollen Sie Verfassungsrichterin werden?
Baer: Es gab tatsächlich den Anruf, wie beim Nobelpreis. Ich hatte damit nie gerechnet. Aber irgendwann wurde ich angerufen und gefragt, ob ich mal zu einem Termin im Büro von Renate Künast kommen könne, sie war damals für die Grünen im Deutschen Bundestag. Ich dachte, es sei eine der üblichen Fragen, gehe also um ein Gutachten, aber dann bot sie mir an, mich für das Bundesverfassungsgericht vorzuschlagen. Das hat mich und viele andere wirklich überrascht. Die Grünen durften damals ja erst zum zweiten Mal eine Kandidatin vorschlagen, und ich hatte nicht das Mainstream-Profil, hatte mich für Gleichstellung und gegen Diskriminierung engagiert – noch dazu damals in der einzigen Jura-Professur für Gender Studies der Bundesrepublik. Das war damals nicht einfach, aber heute toben Kulturkämpfe um Begriffe wie „Gender“ und um die Frage, ob man in Texten „gendern“ sollte oder gar darf. Was noch dazu kam: Ich habe über meine Liebe nie gelogen – ich bin mit einer Frau verheiratet.
Auch das noch? – Der freundliche Krisenpodcast: Recht sprechen in der „Wahrheitskrise“
ZEIT: Mussten Sie damals öffentlichen Gegenwind fürchten?
Baer: Natürlich gab es auch früher Diskussionen in den Parteien, weil jemand zu links, zu rechts, zu konservativ, zu dies oder zu das war. Irgendjemandem gefällt ein Kandidat oder eine Kandidatin eben immer nicht. Und ja, es hat auch schon Kandidatinnen und Kandidaten gegeben, die abgelehnt worden waren – aber in der Regel hat sich eine Gruppe von kundigen Abgeordneten auf eine Auswahl geeinigt. Grundsätzlich anders ist allerdings: Es gab damals noch keine sozialen Netzwerke, über die Kampagnen so wie heute hätten initiiert werden können. Beschäftigt hat mich die mögliche öffentliche Reaktion schon damals, aber ich bin erst mal nach Hause geradelt und habe meine Frau gefragt, ob wir zu dem Schritt bereit sind. Wir haben dann gemeinsam überlegt, ob wir den öffentlichen Gegenwind aushalten wollen.
ZEIT: Und warum haben Sie dann doch Ja gesagt?
Baer: Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichts, hat einmal gesagt, dass es Fragen gibt, auf die das Nein sehr schwerfallen dürfte.
ZEIT: Sie haben sich dann bei den Fraktionen vorgestellt, auch bei der CDU/CSU?
Baer: Ja, auch bei der CDU und CSU. Das hat bei Frau Brosius-Gersdorf gefehlt, und das war fahrlässig. In den Gesprächen wurden mir damals auch sehr persönliche Fragen gestellt – nach Religion, Privatleben –, was grenzwertig war. Aber ich hatte den Eindruck, die Abgeordneten wollten wirklich wissen, wer da kommt. Ich weiß auch, dass an dem Abend sehr lange und kontrovers diskutiert wurde und meine Wahl überhaupt kein Selbstläufer war. Ich zweifelte sehr, ob ich gewählt werden würde, auch weil ich auf eine Frage hin ganz offen erklärt hatte, was die heteronormativen Probleme der Institution der Ehe sind.
ZEIT: Wäre Ihre Wahl heute noch unwahrscheinlicher?
Baer: Das weiß ich nicht, denn auch damals waren Leute im Raum, die genauso konservativ dachten wie einige derjenigen, die sich im Sommer bei Brosius-Gersdorf exponiert haben. Was ich wohl vermitteln konnte, ist eine sehr hohe Achtung vor den Politikerinnen und Politikern, und dass ich den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers wirklich sehr, sehr ernst nehme. Das tue ich bis heute.