Bundeskanzler Friedrich Merz macht nach seinen Auslandsreisen eine Visite in der Provinz. Anstatt Weltpolitik zu machen oder Koalitionskrisen in Berlin einzudämmen, zollt er dem Handwerk großen Respekt und fordert mehr Respekt für die duale Ausbildung.
Friedrich Merz braucht von Olsberg bis zu seiner Familie im heimischen Arnsberg-Niedereimer etwa 30 Minuten mit dem Auto. Das Zuhause ist also nicht fern, als der Bundeskanzler am späten Freitagnachmittag in der Konzerthalle von Olsberg eintrifft – tief im Sauerland, einer bewaldeten, bergigen Region, die seit Jahrzehnten mit dem Slogan „Land der tausend Berge“ für sich wirbt.
Merz kommt gerade aus dem etwa 150 Kilometer südlich entfernten Jülich. Dort hat er mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) im international bekannten Forschungszentrum den neuen Superrechner „Jupiter“ eingeweiht. Nun ist er in Olsberg, wo die Handwerkskammer Südwestfalen ihr 125-jähriges Bestehen mit mehr als 600 Gästen feiert.
Für Merz ist es der heimatnahe Abschluss einer Tour durch Nordrhein-Westfalen. Am 14. September sind Kommunalwahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland und der Kanzler will seiner Partei mit seiner Präsenz helfen. Dafür verwandelt sich der 69-Jährige kurz zurück in einen Kommunalpolitiker – mit Sonderstatus. Nach seinen Auslandsreisen, der großen Politik und den Konflikten in Berlin mit seinem SPD-Koalitionspartner widmet er sich den vermeintlich kleinen Terminen.
Kanzler spricht von Epochenbruch
Merz hat in seiner Festrede keine spektakulären Neuigkeiten zu verkünden, er wiederholt eigentlich das, was er schon seit Tagen und Wochen sagt. Doch für die Gäste ist das etwas Besonderes, wenn ihnen kein Geringerer als der Kanzler die umwälzenden Weltgeschehen beschreibt. Die Welt verändere sich so grundsätzlich und mit so hoher Geschwindigkeit, „dass alte Gewissheiten verlorengehen und neue Unsicherheiten entstehen“, sagt Merz. Er wiederholt auch hier ein Wort, dass den Ausspruch von der „Zeitenwende“ noch toppt: „Dieser Epochenbruch macht nicht Halt an den Grenzen unseres Landes oder an den Kreisgrenzen des Hochsauerlandkreise“.
Es fällt auf, dass Merz bei den Reformen jetzt vorsichtiger formuliert. Offenbar hat die jüngste Aussprache mit der SPD-Seite gewirkt. Merz vermeidet verbale Härte und kategorische Sätze, um die SPD nicht wieder zu verärgern. „Wir müssen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest machen“, sagt Merz ungewohnt defensiv. Es gebe einen „großen Handlungsdruck“, und es brauche Reformen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen. Man werde im Herbst „einige grundlegende Reformen auf den Weg bringen.“ Man wolle keine Schnellschüsse, sondern tragfähige Lösungen. Merz dankt öffentlich seinem Koalitionspartner, dass dieser den Weg mitgehe.
Merz kommt auch auf Migration zu sprechen, ein Thema, das er häufig anspricht. Der Kanzler bemüht sich dabei um eine differenzierte Sichtweise. Er danke allen Betrieben, die Migranten als Auszubildende aufgenommen hätten. „Das sind Erfolgsgeschichten. Wir brauchen diese jungen Menschen“, sagt Merz. Im nächsten Atemzug betont er auch, dass die Asylbewerberzahlen um fast 60 Prozent zurückgegangen seien und die illegale Migration „weiter reduziert“ werden müsse.
Merz fordert „Mentalitätswechsel“ bei der Wertschätzung des Handwerks
Merz konzentriert sich nicht nur auf die Weltpolitik und das Eindämmen von Koalitionskrisen. Der Kanzler sagt vor den zahlreichen Handwerksmeistern noch etwas Bildungspolitisches, was seit seiner Amtsübernahme noch keine große Rolle gespielt hat. Merz verlangt allgemein mehr Anerkennung für das Handwerk und für die duale Ausbildung, was im ersten Moment banal klingen könnte, aber eine größere Wucht entfaltet. Er fordert einen „Mentalitätswechsel“ bei der Wertschätzung des Handwerks. „Wir bezeichnen uns in Deutschland weiterhin zu Recht als Land der Ingenieure, aber der beste Ingenieur ist hilflos ohne Elektriker, Maurer, Zimmermann.“
Politikbeobachter erinnern sich in diesem Zusammenhang noch, dass Merz mit einem handwerksbezogenen Ausspruch einmal für bundesweite Aufregung gesorgt hatte. Im Jahr 2023, als Merz noch Oppositionschef war, wollte er die Regierungsfähigkeiten seines Amtsvorgängers Olaf Scholz (SPD) verspotten und bezeichnete ihn im Bundestag als „Klempner der Macht“. Damit zog er sich den Ärger des Zentralverbandes des Klempnerhandwerks zu. Dessen damaliger Vorsitzender Ulrich Leib beklagte im WELT-Interview, Merz habe mit dieser Äußerung „nicht nur das Klempnerhandwerk beleidigt, sondern das gesamte Handwerk.“
Wenn man so will, dann lässt sich der Besuch in Olsberg als eine Art späte Wiedergutmachung deuten. Bei einer kleinen Talkrunde auf der Bühne verstärkt Merz seinen Respekt und wird dabei sehr persönlich. „Es ist eine Diskussion, die wir in den Familien führen müssen. Ich sage es an die Adresse der Eltern: Ganz ehrlich, hört auf, Euren Kindern zu sagen, dass der Mensch erst beim Abiturienten anfängt und erst als Akademiker seine Vollendung erfährt.“ Dafür bekommt er den stärksten Applaus.
Und dann spricht Merz über Erfahrungen aus der eigenen Familie
Dann spricht er über eine wichtige Erfahrung in seiner Familie: Sein Bruder sei nicht bis zum Abitur gekommen, sondern sei in Olsberg zur Berufsfachschule gegangen. Das sei ein „ganz schwieriger Prozess“ in der Familie gewesen, weil er nicht wie seine Freunde aufs Gymnasium gegangen sei. „Meine Eltern haben das damals richtig entschieden. Mein Bruder ist ihnen lebenslänglich dankbar gewesen“, sagt Merz. Er wolle Eltern „ermutigen, es genauso zu machen. Wenn Sie erkennen, dass eher handwerkliche Begabungen da sind, dann schickt Eure Kinder in die Handwerksbetriebe, auf die Berufsschule und sorgt dafür, dass Eure Kinder ihr Lebensglück im Handwerk finden und nicht in einer verkorksten akademischen Karriere.“
Dann werden auf der Festbühne die „silbernen Meisterbriefe“ an Personen übergeben, die seit 25 Jahren Handwerksmeister sind. Eine Moderatorin ruft die Namen auf, die Personen aus dem gesamten Kammergebiet kommen auf die Bühne, erhalten eine große Urkunde und werden vom Kanzler beglückwünscht. Merz schüttelt jedem Jubilar die Hand. Fast eine halbe Stunde geht das so.
Dann bekommt der Kanzler zum Abschied eine große, kunstvoll geformte Hand aus Bleikristallglas überreicht. Ein Redner gibt ihm mit Hinweis auf die anstehenden Sozialreformen noch einen Ausspruch des heiligen Benedikt von Nursia mit auf den Weg: „Müßiggang ist schlecht für die Seele.“
Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen.