Stand: 01.12.2025 12:42 Uhr
Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland mehr HIV-Neuinfektionen als im Jahr davor. Viele Infektionen werden erst im fortgeschrittenen Stadium erkannt – für Experten der Aidshilfe ein Alarmzeichen.
Wo steht Deutschland in der Bekämpfung von HIV? Die Antwort fällt zum diesjährigen Welt-Aids-Tag recht ernüchternd aus. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldet, dass sich 2024 schätzungsweise 2.300 Menschen neu mit HIV infiziert haben – und damit 200 mehr als im Vorjahr.
Insgesamt leben nach RKI-Schätzungen etwa 97.700 Menschen mit HIV in Deutschland. Anders als die Schätzung der Neuinfektionen beinhaltet diese Zahl auch Menschen nicht deutscher Herkunft, die sich im Ausland infiziert haben. Zum Beispiel in der Ukraine, einem Land mit hoher HIV-Inzidenz.
Trotz hochwirksamer Therapien, die eine Übertragung verhindern können, zeigt sich: Der medizinische Fortschritt allein reicht nicht aus, um das Infektionsgeschehen dauerhaft zu stabilisieren – beziehungsweise gegen Null herunterzufahren, wie es sich die Weltgemeinschaft bis 2030 zum Ziel gesetzt hat.
Mehr Infektionen und viele späte Diagnosen
Der höhere Anstieg bei den Neuinfektionen zieht sich durch alle Gruppen: Personen, die sich bei heterosexuellem Sex anstecken, Männer, die Sex mit Männern haben (kurz: MSM), Menschen, die sich beim Spritzen von Drogen infizieren.
Wenn es um MSM geht, ist der Anstieg auffällig – hatte es vor der Pandemie bereits mehrere Jahre lang einen Rückgang der Neuinfektionen gegeben. „Es ist zu früh, um einschätzen zu können, ob sich ein neuer Trend andeutet“, sagt Barbara Bartmeyer vom RKI. Der Anstieg könne verschiedene Ursachen haben. So habe es zum Beispiel temporär Lieferengpässe bei der „HIV-Präexpositonsprophylaxe“ (PrEP) gegeben, Medikamenten, die vor Infektionen schützen können. „Aber es können auch Informations- und Versorgungslücken ursächlich sein.“ Gerade auf dem Land gebe es zu wenige HIV-Schwerpunktpraxen, was den Zugang zur PrEP erschwere. Dass auch andere Ärzte diese Mittel nach einer Fortbildung ausgeben dürfen, wissen viele nicht.
Anders sieht es bei der – kleineren – Gruppe derer aus, die sich über Drogenkonsum via Spritze infizieren: Hier steigen die Infektionszahlen bereits seit 2010 langsam, aber kontinuierlich an. „Das ist ein Trend, den wir mit Sorge beobachten“, sagt Jens Ahrens, der Geschäftsführer der Berliner Aidshilfe. Drogenkonsumenten lebten in prekären Lebensumständen, würden seltener zum Test gehen, seltener beraten und häufiger übersehen. Sie benötigten dringend niedrigschwelligen Zugang zu Tests, außerdem Zugang zu sterilen Spritzen. Entsprechende Angebote wie Testmobile oder Spritzentauschprojekte seien aber vielerorts von Kürzungen bedroht.
Stigma als zusätzliches Hindernis
Kopfschmerzen bereitet den Fachleuten ein Befund, der seit Jahren stabil ist und auch für andere europäische Länder gilt: Dass die Diagnose oft erst spät erfolgt. Rund ein Drittel der Infektionen wird erst im fortgeschrittenen Stadium entdeckt, fast jede fünfte Infektion sogar erst, wenn der Patient bereits an Aids erkrankt ist. Schätzungsweise 8.200 Menschen in Deutschland leben mit HIV, ohne es zu wissen. Für die Betroffenen bedeutet das vermeidbare gesundheitliche Risiken; für die Prävention erschwert es die Möglichkeit, Übertragungen früh zu unterbrechen. „Das heißt, das Testangebot hat immer noch Lücken und Nachbesserungsbedarf“, so Barbara Bartmeyer vom RKI.
Hinzu kommt ein Faktor, der in den Zahlen nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, aber auch im Jahr 2025 noch greift: Stigmatisierung. Nach wie vor gibt es Vorurteile gegenüber Menschen mit HIV, und sie wirken sich aus. „Wer Diskriminierung befürchtet, holt sich seltener Rat, meidet Tests oder spricht nicht offen über Risiken“, so die Erfahrung von Jens Ahrens von der Berliner Aidshilfe. Das verlängert die Zeit bis zur Diagnose oft um Jahre.
Wertvolle Jahre – denn früh erkannt, kann man das HI-Virus medikamentös so gut unterdrücken, dass man trotz chronischer Erkrankung ein langes und weitgehend einschränkungsfreies Leben führen kann.
Experten sehen Handlungsbedarf
Auch wenn noch unklar ist, ob es sich beim Anstieg der Neuinfektionen um den Beginn eines Trends oder um einen einmaligen Ausreißer handelt: Die Zahlen machen einmal mehr deutlich, dass Fortschritte im Kampf gegen HIV auch hierzulande nicht selbstverständlich sind.
Jens Ahrens von der Berliner Aidshilfe rechnet perspektivisch in Deutschland mit wachsenden Versorgungslücken, da viele spezialisierte Ärzte – seien es Fachärzte für die Substitution Drogenabhängiger, seien es Betreiber der HIV-Schwerpunktpraxen – perspektivisch in den Ruhestand gehen und der Nachwuchs fehle. „Hier besteht dringender Handlungsbedarf, es ist ganz wichtig, dass die ärztliche Versorgung in der Nähe vorhanden ist.“ Denn das erhöhe die Therapietreue der Patienten, die unbedingt nötig ist, um HIV dauerhaft in Schach zu halten. Eigentlich bräuchte es mehr Mittel für Aufklärung, Prävention und Versorgung. Da die Zeichen aber eher auf Kürzung stünden, befürchtet er einen „Rollback.“
Auch RKI-Expertin Bartmeyer beobachtet mit Sorge, „dass in vielen Ländern – und ich befürchte auch in Deutschland – schleichend Gelder für die Prävention, für Aufklärungskampagnen und auch Forschungsprojekte wegbrechen“. Auch weltpolitische Entwicklungen – etwa dass die USA sich weitgehend aus der Finanzierung von HIV-Projekten im globalen Süden zurückgezogen haben, könnten sich über kurz oder lang auch hierzulande bemerkbar machen. „Krankheiten machen nicht vor Grenzen halt, Menschen sind immer in Bewegung.“










