Ein letzter Auftritt mit viel Pathos, aber ohne jede Illusion. Frankreichs Premierminister François Bayrou hat am Montagabend wie erwartet eine Vertrauensabstimmung im Parlament verloren, die er selbst und ohne Not einberufen hatte. 280 Stimmen hätte er mindestens gebraucht, um im Amt zu bleiben, er brachte es nur auf 194; 364 Abgeordnete stimmten gegen ihn. Der 74-jährige Zentrist, Chef einer Regierung ohne Mehrheit, stürzt nach weniger als neun Monaten.
Bayrou hatte offenbar einmal gehofft, dass sich auch Abgeordnete der linken und extrem rechten Oppositionsparteien überzeugen ließen, seine Regierungserklärung zu den desaströsen Staatsfinanzen mitzutragen – nicht seinen harten Budgetplan, aber wenigstens den Befund über die nationale Lage. Darum ging es ihm.
Erneut zeichnete Bayrou ein dramatisches Bild des französischen Haushalts: ein Defizit von 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 3415 Milliarden Euro Staatsschulden. Das Land stehe an der Klippe, sagte er, das Schicksal der Nation sei in Gefahr. „Das ist keine politische Frage, sondern eine historische.“ Sie treffe vor allem die Jungen. „Sie fühlen sich als geopferte Generation.“
„Das größte Risiko war, kein Risiko einzugehen“
Zur Opposition sagte Bayrou: „Ihr habt das Recht, diese Regierung zu stürzen. Aber ihr könnt die Realität nicht wegwischen.“ Er habe diese Stunde der Wahrheit ausdrücklich gewollt: „Das größte Risiko war, kein Risiko einzugehen.“ Vierzig Minuten dauerte die Rede, sie war schon als Abschiedsrede konzipiert.
Bayrou war im Dezember 2024 Premierminister geworden – eher überraschend und eher gegen den Willen des Präsidenten. Andere hatten bessere Chancen auf das Amt, etwa Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, ein enger Vertrauter von Emmanuel Macron. In Paris erzählt man sich, Bayrou habe Macron regelrecht gezwungen, ihn zu nominieren. Im anderen Fall würde er seine Partei, das zentristische Mouvement Démocrate, aus dem Regierungsbündnis zurückziehen, und das wäre ein kapitaler Bruch gewesen.
Bayrou hatte Macron maßgeblich zur Wahl verholfen, damals, 2017: Er war dessen erster und prominentester Unterstützer gewesen, auch dessen ideologische Blaupause. Macrons Maxime des „en même temps“, sowohl als auch, ein bisschen links, ein bisschen rechts – das war Bayrou schon vor ihm gewesen. Der Idealtypus des Zentristen, ein Tänzer auf der Mittellinie: Er konnte mit den Sozialisten reden, aber auch mit den Lepenisten.
Und deshalb dachten nach seiner Berufung zum Premier viele, Bayrou wäre in dieser schwierigen Phase, da das französische Parlament ohne Mehrheit dahinsegelt, vielleicht doch der bestmögliche Mittler, wahrscheinlich sogar ein Schuster von Koalitionen in einem Land ohne Kompromisskultur. Es hieß, wenn es einer schaffe, dann er. Das war ein Trugschluss.
Bayrou versuchte nie, mit der Opposition zu verhandeln
Bayrous Versuch, mit der Vertrauensabstimmung alle zu disziplinieren, noch bevor die Debatte über seinen Sparetat stattgefunden hatte, ist missraten. Das wurde schnell klar. Sowohl die gemäßigte Linke als auch die extreme Rechte kündigten sofort an, dass sie Bayrou stürzen würden, kaum hatte dieser den 8. September in die Agenden geloggt. Was hätten sie auch tun sollen: Bayrou hatte in den vergangenen Monaten nie ernsthaft das Gespräch mit ihnen gesucht, verhandelt wurde nicht. Der Kompromissschließer blieb hinter den Hoffnungen zurück, er reihte viel mehr Fauxpas an Fauxpas.
Macron muss nun den fünften Premierminister in nur zwei Jahren berufen, das hat es in der laufenden 5. Republik, also seit 1958, noch nicht gegeben. Bleibt er seiner Art treu, dann braucht er dafür eine Weile: In Personalfragen tut sich der Präsident immer schwer. Diesmal aber, so sickert es durch aus dem Palais de l’Élysée, könnte es schnell gehen. Alle Optionen sind offen.
Nominiert er wieder jemanden aus seinem zentristischen Lager oder von den verbündeten Republikanern, müsste das schon jemand sein, der es gut mit der Opposition kann. Macron kann auch einen Sozialisten zum Premier machen, und die Sozialisten boten ihre Dienste nun auch offen an. Doch wie geht das zusammen: die Bilanz des neoliberalen Präsidenten und das Programm der Linken, die Steuergeschenke Macrons und die Reichensteuer der Sozialisten?
Schnell soll es auch deshalb gehen, weil die kommenden Tage neue Komplikationen bringen, auf der Straße gewissermaßen. Für diesen 10. September ruft die neue, ideologisch schwer verortbare Bürgerbewegung „Bloquons tout“ zu einer „Totalblockade“ des Landes auf: dazu, dass die Franzosen zu Hause bleiben, nichts einkaufen, keine Kreditkarten benutzen, dass sie Infrastrukturen wie Bahnhöfe, Straßen und Flughäfen stören. Geboren ist die Bewegung im Netz; vor ein paar Wochen setzte sich die radikal linke La France insoumise an deren Spitze. „Bloquons tout“ hält an den Plänen fest, selbst jetzt noch, da Bayrou und sein Budget weg sind. Wie groß die Gefolgschaft dieser Bewegung ist, ist unklar. Aber manche Parallelen zu den Gelbwesten wirken wie ein Déjà-vu.
Politische Gewissheit wünschen sich auch die Finanzmärkte und Frankreichs Unternehmer. Am kommenden Freitag wird dann die Ratingagentur Fitch ihre Einstufung Frankreichs bekanntgeben, und die Wahrscheinlichkeit dürfte groß sein, dass sie die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufen wird, eben gerade wegen der politischen Wirren. Für den 18. September ist dann eine Streikwelle geplant, bei der auch die CGT mitmacht, der größte Gewerkschaftsbund des Landes. Wenn bis dahin keine neue Regierung steht, gerät Macron unter starken Druck.