Stand: 08.11.2025 17:14 Uhr
Zum Jahrestag der Novemberpogrome gegen Juden 1938 warnen Holocaust-Überlebende vor neuem Antisemitismus. Der Präsident des Zentralrats der Juden hält israelfeindliche Demonstrationen in Berlin für eine „Perversion der Geschichte“.
Holocaust-Überlebende haben anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome 1938 vor Demokratiefeinden und neuem Antisemitismus gewarnt.
„Wenn in diesen Tagen immer spürbarer wird, dass sich Menschen erneut für Ideologien des Hasses und des Antisemitismus begeistern lassen, und wenn ich merke und höre, wie immer mehr Menschen dies akzeptieren und diese Nachbarschaft in ihrem Alltag als normal empfinden, dann wird mir ganz kalt“, sagte die Auschwitz-Überlebende und Präsidentin des Internationalen Auschwitz-Komitees, Eva Umlauf.
Christoph Heubner, der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, fügte hinzu, der 9. November sei für Überlebende des Holocaust ein „Tag des Gedenkens an die Schrecken der Pogrome“ und – wegen des Jahrestags des Mauerfalls 1989 – „ein Tag der Demokratie“. Die Überlebenden hofften darauf, dass die große Mehrzahl der Bürger in Deutschland mit ihnen und ihren Erinnerungen solidarisch ist und die Demokratie gegen die Attacken und Parolen rechtsextremer Populisten und Parteien stärkt und beschützt, so Heubner weiter.
Was geschah bei den Novemberpogromen 1938?
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sowie in den folgenden Tagen kam es im damaligen Deutschen Reich zu brutalen Angriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen. Synagogen, Betstuben, jüdische Friedhöfe, Geschäfte und Versammlungsräume wurden zerstört, zahlreiche Menschen ermordet, Zehntausende in Konzentrationslager verschleppt.
Den Vorwand für die Ereignisse bildete das Attentat des 17-jährigen Herschel Grünspan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris am 7. November. Grünspan wollte mit seiner Tat gegen die Deportation von 17.000 Juden aus Deutschland an die polnische Grenze protestieren. Propagandaminister Joseph Goebbels nutzte den Anlass zu einer Hetzrede. Im ganzen Deutschen Reich organisierten SA- und NSDAP-Mitglieder daraufhin die Übergriffe gegen Juden.
Die Novemberpogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung zur systematischen und gewaltsamen Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime.
„Nie wieder“ darf nicht zur Floskel werden
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, warnt davor, dass die Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. November 1938 und die Verbrechen gegen die Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu einer hohlen Geste wird.
Beherrscht würden die Debatten rund um diesen Tag von der Phrase „Nie wieder“, schreibt Schuster in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieses „Nie wieder“ sei jedoch für viele zu einer Floskel verkommen, „hinter der man sich heute verschanzt, um den Rest des Jahres unverdächtig zu sein“.
Dem Aufruf wohne ein falsches Verständnis inne: „Dem Deutschen geht es darum, nie wieder Schuld auf sich zu laden. Für uns Juden bedeutet ‚Nie wieder‘ hingegen: nie wieder Opfer sein.“
„Mit Hass im Herzen und auf den Lippen“
Scharf geht Schuster mit propalästinensischen Demonstrationen ins Gericht, bei denen Menschen heutzutage „mit Hass im Herzen und auf den Lippen“ durch Berlins Straßen zögen. „Diese Menschen erdreisten sich, ‚Nie wieder‘ zu rufen. Sie prangern damit nicht die Übergriffe auf Juden an. Ihr Ziel ist es, das Handeln Israels zu dämonisieren. ‚Nie wieder‘, gerichtet gegen den einzigen jüdischen Staat.“ Das sei eine „Perversion der Geschichte“.
Man könne das Handeln der israelischen Regierung selbstverständlich kritisieren, betonte der Zentralratspräsident. „Ich werde nicht müde, das zu tun – doch ich bin es leid, als Replik auf Beiträge wie diesen regelmäßig zu hören, man könne ‚keine Kritik an Israel üben, ohne als Antisemit zu gelten‘.“
Auch Kulturstaatsminister Weimer warnt
Auch Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) hat zum Jahrestag der Pogromnacht vor dem Erstarken des Antisemitismus in Deutschland und Europa gewarnt. „Die Pogromnacht vom 9. November 1938 war ein barbarisches Verbrechen, das uns bis heute verpflichtet“, sagte Weimer laut Mitteilung seines Hauses.
Mit Blick auf die Gegenwart mahnte er, Antisemitismus sei kein Schatten der Vergangenheit, er „wütet wieder im grellen Licht unserer Gegenwart“. Wenn jüdische Kinder unter Polizeischutz in die Schule gehen und Synagogen bewacht und Davidsterne versteckt werden müssten, dann sei das „ein Schrei – nicht nur der Angst, sondern an unser Gewissen“.
Gauck warnt vor arabischem und linkem Antisemitismus
Einen entschlosseneren Kampf gegen Antisemitismus – auch wenn dieser aus dem arabischen Raum oder von der politisch linken Seite komme – fordert der frühere Bundespräsident Joachim Gauck: „Wir haben seit Jahrzehnten eingeübte Abwehrreflexe gegenüber rechts – das ist gut“, sagte er der Zeitung Tagesspiegel. „Was lange vernachlässigt wurde, ist die Beschäftigung mit Antisemitismus etwa aus dem arabischen Raum, wo es völlig normal sein kann, mit antisemitischen Vorstellungen aufzuwachsen.“
Manche hätten auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen. „Egal, wo Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit herrühren: Wir brauchen mehr Entschlossenheit beim Schutz der Menschenwürde“, sagte er.









