Es sollte eine einfache Aufgabe für McLaren werden. Neun Punkte mehr als Ferrari, und der britische Rennstall kann sich am kommenden Wochenende in Baku schon acht Rennen vor Saisonende als Konstrukteurs-Weltmeister 2025 feiern. Diese neun Punkte Überschuss sind McLaren in dieser Saison bereits 15 von 16 Mal gelungen. Das zweitälteste Team der Formel 1 ist mit bislang zwölf Siegen so überlegen, wie es früher einmal Ferrari, Mercedes oder Red Bull waren.
Das große Fest der erfolgreichen Titelverteidigung wird in McLarens Presse-Vorschau auf den Grand Prix von Aserbaidschan (Sonntag, 13 Uhr MESZ/Sky) mit keinem Wort erwähnt. Das passt zu McLaren und zu seinem Teamchef Andrea Stella. Halte den Ball flach, solange das Ziel nicht erreicht ist. Stella zählt zu der neuen Generation Teamchefs. Er ist ein Angestellter ohne Anteile am Team. Er hat Luftfahrttechnik in Rom studiert und als Ingenieur einen anderen Blick auf die Menschen im Team als ein Geschäftsmann. Er hat seit seinem Einstieg als Test-Ingenieur bei Ferrari im Jahr 2000 alle Stationen durchlaufen, die es in einem Formel-1-Team auf dem Weg nach oben gibt. Ihm macht in der Praxis oder Theorie keiner etwas vor.
2020 kurz vor der Zahlungsunfähigkeit
Der 54-jährige Italiener lernte an der Seite von Michael Schumacher, Kimi Räikkönen und Fernando Alonso das Zusammenspiel zwischen Fahrer und Ingenieur. 2015 zog er mit Alonso zu McLaren. Es war die dunkelste Ära für den britischen Rennstall. 2015 und 2017 beendete McLaren jeweils auf dem vorletzten Platz. Mit den typischen Anzeichen für den Niedergang. Alle paar Jahre ein neuer Motorenpartner. Teamchefs und Technikdirektoren gaben sich die Klinke in die Hand. Sponsoren verabschiedeten sich. Im Corona-Jahr 2020 stand McLaren kurz vor der Zahlungsunfähigkeit.
Unter Andreas Seidl schien sich McLaren zu erholen, doch der positive Trend kehrte sich schnell wieder um. Ende 2022 kündigte sich an, dass McLaren für die neue Fahrzeuggeneration mit Ground effect auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Das war der Moment, an dem Geschäftsführer Zak Brown die Reißleine zog. Der Amerikaner kam zu dem Schluss: „Wir hatten unzufriedene Angestellte, denen es an Führung mangelte. Wir hatten ein Auto, das nicht funktionierte, und obendrein noch einen Streit unter unseren Eigentümern. Wenn sie oben ein Problem haben, setzt sich das auf alle Etagen unterhalb fort.“
Stella war für Brown der Mann, obwohl der Italiener eher ein Leisetreter ist und ein erstes Angebot 2019 abgelehnt hatte, weil er sich damals noch nicht bereit für so viel Verantwortung fühlte. „Wir haben uns 2022 rückwärts bewegt. Die Antwort der damaligen Teamleitung auf unsere Probleme gefiel mir nicht. Da war klar, dass wir den Stecker ziehen mussten. Andrea war mein Mann. Er ist sehr ehrlich mit sich selbst und keiner, der auf einem Egotrip reitet. Sein erster Job Anfang 2023 war, die Führungsebene neu aufzustellen.“
Seitdem bilden Brown und Stella eine Doppelspitze. „Ich kümmere mich um die Dinge außerhalb der Rennstrecke. Im Team und auf der Strecke ist Andrea der Chef.“ Stella bestätigt: „In diesem Geschäft kannst du nichts mehr allein machen wie früher.“ Einzelkämpfer haben bei Stella keine Chance. „Wer sich der Zusammenarbeit verweigert, sitzt bei uns gar nicht erst am Tisch. Gute Entscheidungen ergeben sich aus einem Konsens vieler Meinungen, nicht aus einem Diktator, der irgendwann das letzte Wort hat.“
Volltreffer Marshall
Stellas erste Aufgabe war, die Technikabteilung neu aufzustellen. Als Ingenieur hatte er ein Auge dafür, wer für welchen Posten am besten geeignet war. McLaren bediente sich hauptsächlich aus den eigenen Reihen. Der spektakulärste Einkauf war Chefdesigner Ron Marshall von Red Bull. Mit ihm landete Stella einen Volltreffer. Marshall ist einer, der Grauzonen auslotet und in jedem Detail bis an die Grenze des Erlaubten geht. Genau das, was dem manchmal etwas braven McLaren-Team fehlte. Mittlerweile ist McLaren eine verschworene Gemeinschaft. Das neue Team von Cadillac wildert gerade mit Rekordgehältern bei der in England stationierten Konkurrenz. Das einzige Team, das keine Leute an die Amerikaner verliert, ist McLaren.
Innerhalb von 18 Monaten stieg McLaren vom Mittelfeldteam zum Branchenprimus auf: 2024 gewann der zweitälteste Rennstall der Formel 1 zum ersten Mal seit 1998 wieder den Konstrukteurstitel. In diesem Jahr wird wohl auch wieder der Weltmeister ein McLaren-Fahrer sein. Das Duell zwischen Oscar Piastri und Lando Norris ist für Stella die bislang größte Herausforderung seiner noch jungen Teamchef-Karriere. Um einen Stallkrieg wie einst zwischen Alain Prost und Ayrton Senna zu vermeiden, hat McLaren früh seine sogenannten Papaya-Regeln aufgestellt, die sich einem fairen Umgang gegenüber den Fahrer verschreiben. Für Piastri und Norris gilt das Gleiche. Kollisionen im Zweikampf sind verboten.
Mit der Fairness übertrieben?
Schwieriger wird es bei der Rennstrategie. Budapest 2024 war ein erster Prüfstand für das Prinzip der Gleichbehandlung. Piastri führte, geriet aber ins Hintertreffen, weil es die Rennsituation erforderte, dass Norris den früheren Boxenstopp bekam. Das Team bestand auf einem Platztausch, dem sich Norris am Ende des Rennens auch fügte. Beim vergangenen Grand Prix in Monza kam es zu einer ähnlichen Konstellation. Diesmal lag Norris vorne. Piastri wurde zuerst an die Box gerufen. Es war abgesprochen, dass der Australier die Position wieder zurückgibt, wenn der frühere Boxenstopp ihn vor Norris bringt. Tatsächlich aber war es ein verunglückter Reifenwechsel, der die Reihenfolge änderte. Piastri wurde trotzdem zurückgepfiffen. Er befolgte die Stallregie, nicht ohne den vielsagenden Kommentar: „Schlechte Boxenstopps gehören zum Rennsport.“
Stella hatte danach viel zu erklären. McLaren wurde vorgeworfen, es mit der Gleichschaltung und Fairness zu übertreiben. Das könnte dem Team auf die Füße fallen, wenn es zu vergleichbaren Szenen kommt und Piastri sein Recht einfordert. Im Gegensatz zum vorigen Jahr geht es um nicht weniger als um den WM-Titel. Stella blieb trotzdem standhaft: „Es ist uns wichtig, dass diese WM nach unseren Prinzipien und Werten entschieden wird, Oscars Reaktion zeigt die Kultur, die in diesem Team herrscht.“