Es herrschte gereizte Stimmung in der Asylbewerberunterkunft im Norden des Landkreises Ebersberg an diesem Abend im März 2024. In der Küche gab es einen lautstarken Streit um die Benutzung der Herdplatten, ein anderer Bewohner wollte nachschauen, worum es ging – und hatte am Ende eine blutende Hand mit einer durchtrennten Fingersehne. Zugefügt hat sie ihm nach Überzeugung des Ebersberger Schöffengerichts ein 57-jähriger Mitbewohner in der Unterkunft. Zwar ließen sich die Ereignisse des Abends nicht mehr im Detail rekonstruieren, für das Gericht stand aber am Dienstag am Ende der Verhandlung die Schuld des Angeklagten an der Tat fest – was für diesen nun gravierende Folgen hat.
Der Angeklagte selbst, der als Schneider und Mitarbeiter einer Security-Firma arbeitet, wollte sich trotz gegenteiligen Rats seiner Verteidigerin und einer eindringlichen Belehrung durch Richter Frank Gellhaus nicht äußern. „Delikte, bei denen ein Messer im Spiel ist, werden mit der gebotenen Schärfe geahndet“, hatte Gellhaus eingangs unterstrichen und darauf hingewiesen, dass eine empfindliche Strafe im Raum stehe und ein Geständnis sich strafmildernd auswirken könne. Doch der 57-Jährige blieb schweigsam. Nur aus den Akten ging hervor, dass er bei der Polizei gesagt hatte, dass sich das mutmaßliche Opfer die Verletzungen selbst mit dem Messer beigebracht habe.

:Vom Pressepodium auf den Direktionssitz
Von 1. September an heißt die Direktorin des Amtsgerichts Ebersberg Anne Leiding. Davor leitete die 53-jährige Oberstaatsanwältin acht Jahre lang die Pressestelle der Staatsanwaltschaft München I. Auf eine Sache freut „die Neue“ sich besonders.
Wie vor Gericht deutlich wurde, hatte der Vorfall eine Vorgeschichte. Der Angeklagte sei immer wieder aufgefallen, weil er streitsüchtig sei, sagte der 60-jährige Mitbewohner, der die Verletzungen erlitten hatte und vor Gericht auch als Nebenkläger auftrat: „Er hat allen Probleme gemacht.“ An jenem Abend soll der Angeklagte den Mitbewohner schon im Vorbeigehen von der Küche in sein Zimmer beschimpft haben. Dann habe der 57-Jährige ein Küchenmesser geholt und versucht, ihm damit in die Bauchgegend zu stechen, berichtete der 60-Jährige. Er habe nach der Hand mit dem Messer gegriffen, um es abzuwehren – und dabei wohl die Schnitte an den Fingern erlitten.
Wie ein Gutachten zeigen sollte, hatten vier von fünf Fingern Schnittwunden, an einem Finger war die Sehne durchtrennt und musste später genäht werden. „Eine typische Abwehrverletzung“, so beschrieb es später eine Expertin im Gerichtssaal. Sie sei vereinbar mit der Schilderung des Opfers, auch wenn nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne, dass man sich eine derartige Verletzung auch selbst beibringen könnte.
Die Verteidigerin fordert Freispruch
Auch mehrere Zeugen sollten zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen, doch die Tat an sich hatte keiner von ihnen beobachtet. Ein Mitbewohner hatte den Angeklagten und das Opfer nach dem Angriff getrennt, auch andere halfen nach dem Vorfall, die Männer bis zum Eintreffen der Polizei auseinanderzubringen. Einer der Zeugen sagte, auch er selbst habe in jenem Moment Angst vor dem Angeklagten gehabt.
Am Ende zogen die Prozessbeteiligten eine recht unterschiedliche Bilanz zum Gehörten. Die Staatsanwältin unterstrich, dass sich ihrer Überzeugung nach die Schuld des Angeklagten erwiesen habe, sie forderte eine Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten. Verteidigerin Sabine Färber-Fröba hingegen sah vieles auch nach den Zeugenaussagen ungeklärt, die Tatschilderung des Nebenklägers habe nicht bestätigt werden können.
„Passiert ist sicher etwas, aber wir können es nicht klären“, sagte sie und forderte einen Freispruch nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“, also im Zweifel für den Angeklagten. Der Nebenkläger selbst zeigte sich am Ende verblüfft von der hohen Strafforderung der Staatsanwältin, er wies darauf hin, dass der Angeklagte zwar bestraft werden solle, aber in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Kinder habe, eventuell nicht so heftig.
Das Schöffengericht unter Vorsitz von Frank Gellhaus folgte letztlich der Einschätzung der Staatsanwältin, wenn auch nicht, was das Strafmaß betrifft: Verurteilt wurde der 57-Jährige, der bisher noch nie vor Gericht stand, zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten – ohne Bewährung.