Reportage
Stand: 20.11.2025 09:21 Uhr
Wegen der Gefahr durch russische Drohnen halten ukrainische Infanteristen oft über Monate ihre Stellungen. Isoliert in kleinen Gruppen leben sie in Erdlöchern an der Front – körperlich und mental eine extreme Belastung.
Zweimal haben Iwan Mynas Kameraden versucht, zu ihm zu gelangen. Ihn abzulösen nach einem bereits Wochen andauernden Kampf auf der sogenannten Nulllinie im Osten der Ukraine.
Zweimal scheitert die Operation. Über Funk, die einzige Verbindung zur Außenwelt, informiert der Kommandeur über die fehlgeschlagenen Ablöseversuche. „Es war schwer zu hören, dass meine Kameraden auf dem Weg zu mir verletzt wurden“, sagt Myna heute.
Fast 70 Tage harren Myna und nur ein weiterer Kamerad auf ihrer Stellung aus. Etwa ein Jahr ist das jetzt her und lange keine Seltenheit mehr. Ukrainische Soldaten an vorderster Front leben heute oft über Monate praktisch isoliert von der Außenwelt in Unterständen an der Front.
Verlust durch Tod und Verwundung hoch
Myna ist bei der Infanterie – der Truppenteil, in dem sich die vielschichtigen Probleme der ukrainischen Armee am deutlichsten zeigen. Verluste durch Tod und Verwundung sind hoch, ebenso Personalmangel, Beschwerden über Missbrauch durch Kommandeure und Fälle von Fahnenflucht.
„Der Stress in diesem Truppenteil ist mit Abstand am höchsten. Daher kommt es dort auch am häufigsten zu Konflikten untereinander“, sagt Olha Reschetylowa, Ombudsfrau für die Rechte von Soldaten beim ukrainischen Verteidigungsministerium.
An einer Straße in der Region Donezk befestigt ein Soldat ein Netz, das Schutz vor russischen Drohnen bieten soll.
Isoliert im engen Unterstand
Iwan Myna und sein Kamerad leben wochenlang isoliert in einem weniger als fünf Quadratmeter großen Erdloch. Etwa 1,70 Meter ist der Unterstand hoch, sodass Myna gerade aufrecht stehen kann. Draußen ist es bitterkalt.
Alle zwei Stunden wechseln sich die Männer beim Wachestehen ab. Sonst wäre die Gefahr zu erfrieren zu groß, berichtet er. Nahrung und Wasser werfen ihnen Kameraden mittels Drohnen ab. Ansonsten sind die Männer auf sich allein gestellt. Eine körperlich wie mentale Herausforderung.
Todeszone – zu gefährlich für die Sanitäter
Um zu den Erdlöchern zu gelangen, die wie kleine Verteidigungsinseln an einer unübersichtlich gewordenen Frontlinie wirken, müssen die Soldaten kilometerweit durch die sogenannte Todeszone laufen – ein etwa 15 Kilometer breiten Bereich, in dem Drohnen den Luftraum kontrollieren und versuchen, alles anzugreifen, was sich bewegt.
Der Weg ist so gefährlich, dass hierher im Falle einer Verwundung keine Sanitäter mehr geschickt werden. Die Soldaten müssen in der Lage sein, sich über einen langen Zeitraum medizinisch selbst versorgen zu können.
„Der generelle Mangel an Infanteriesoldaten führt dazu, dass an vielen Abschnitten weniger als zehn Soldaten einen Kilometer Front halten“, sagt Rob Lee, amerikanischer Militärexperte. „Je nach Region können bis zu 500 Meter zwischen den Stellungen liegen.“
Die russischen Truppen suchen diese Lücken zwischen den ukrainischen Stellungen. Sickern immer wieder mit ebenso kleinen Infanteriegruppen durch, nutzen dabei ihre zahlenmäßige Überlegenheit und die schlechten Wetterverhältnissen im Winter aus, wenn Drohnen nicht so gut fliegen können.
Nur im Notfall auf den Feind schießen
Ukrainische Infanteristen sind derweil oft dazu aufgerufen, nur im Notfall auf ihren Feind zu schießen. Denn die Gefahr, durch ein Feuergefecht seine Position zu verraten, ist groß. Oft erfüllen die Soldaten am Boden Spähaufgaben für Drohneneinheiten. „Du lauschst, ob du irgendwo den Feind hörst, Drohnen hörst oder schwere Technik“, berichtet Myna.
„Was diese Männer dort machen, ist heroisch. Sie tragen die größte Last dieses Krieges auf ihren Schultern“, meint Lee. „Sie erhalten oft nur eine kurze Grundausbildung und kämpfen dann unter den mitunter schlimmsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann.“
Ombudsfrau kritisiert Umgang mit Soldaten
Ihr monatelanger Einsatz in den Erdlöchern sei trotz der rasanten technischen Entwicklung im Drohnenkrieg notwendig, aus einem simplen Grund: „Ohne Infanterie kann man kein Gebiet halten.“ Nur wer eine Stellung auch physisch besetze, kontrolliere das Gebiet.
Doch der kräftezehrende Kampf in monatelanger Isolation stelle die ukrainische Armee vor neue Fragen, meint Ombudsfrau Olha Reschetylow. „Die mentale Vor- und Nachbereitung muss eine andere sein.“
Viele Soldaten erhielten nach einem solchen Einsatz nur wenige Tage Urlaub und würden dann zurück an die Front geschickt. Allein aus Erschöpfung würden viele dann aus ihren Einheiten fliehen.
Ivan Myna ist von seiner Einheit nicht wieder zurückgeschickt worden. Er arbeitet heute in einem Rekrutierungszentrum seiner Brigade im westukrainischen Lwiw. Er soll als einer, der die Front überlebt hat, anderen die Angst vor der Armee nehmen.









