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Stand: 24.10.2025 06:09 Uhr
Rund um das Wrack der Ostsee-Fähre „Estonia“ gilt ein Tauchverbot. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ besteht jedoch der Verdacht, dass Russland den Ort für Unterwasserspionage gegen die NATO nutzt.
Von Katharina Bews, Antonius Kempmann, Sven Lohmann, Merlin Menze, Alice Pesavento, Benedikt Strunz, NDR, Petra Blum, Florian Flade, WDR, Manuel Bewarder, WDR/NDR
Es war die schwerste Schiffskatastrophe in der europäischen Nachkriegsgeschichte: In der Nacht des 28. September 1994 sank bei einem Sturm über der Ostsee die Fähre MS „Estonia“ auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm. Über die genaue Unglücksursache ranken sich bis heute Gerüchte und Mutmaßungen, denn es gibt Ungereimtheiten.
852 Menschen kamen damals ums Leben, nachdem sich das vordere Bugvisier geöffnet hatte. Viele der Leichen wurden nie geborgen. Das Wrack liegt etwa 35 Kilometer südöstlich der finnischen Insel Utö in rund 80 Metern Tiefe am Meeresgrund und gilt offiziell als Grabstätte.
Ein Jahr nach dem Schiffsunglück unterzeichneten die Regierungen der Anrainerstaaten Schweden, Estland und Finnland ein Abkommen, das Tauchgänge rund um das Wrack der „Estonia“ wegen der Störung der Totenruhe verbietet. Zwischenzeitlich gab es Pläne, das versunkene Schiff in einem Betonsarkophag einzuschließen. Dieser Plan wurde aufgegeben nach Protesten von Hinterbliebenen und aus Sorge, dass weitere Untersuchungen zur Unglücksursache erschwert würden. So liegt die „Estonia“ weiterhin am Grund der Ostsee.
Übungsgelände für russisches Militär
Doch offenbar bekommt das Wrack ab und an unerlaubten Besuch: Nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) gibt es in der NATO Erkenntnisse darüber, dass Russland das Wrack der „Estonia“ als Übungsgelände für Unterwasseroperationen und möglicherweise auch als Versteck für Spionagetechnik nutzen soll.
Demnach sollen mehreren NATO-Mitgliedsstaaten Informationen vorliegen, wonach noch vor wenigen Jahren technische Geräte am Wrack der versunkenen Fähre positioniert worden waren, die hochpräzises Navigieren von Unterwasserdrohnen und Robotern ermöglichen. In westlichen Sicherheitskreisen geht man davon aus, dass russische Militäreinheiten dort entsprechende Aktivitäten geübt haben.
Zudem besteht der Verdacht, dass Russland eine solche Sperrzone inmitten der Ostsee nutzen könnte, um eigene militärische Sensorik zu verstecken, mit der sogenannte Signaturen von NATO-Kriegsschiffen und U-Booten aufgezeichnet werden, also die spezifischen Schraubengeräusche und andere Merkmale.
Aggressiveres Auftreten
Die Position des Wracks in der Ostsee zwischen Schweden, Finnland und dem Baltikum, so berichten es mehrere Militärvertreter in Gesprächen, sei aufgrund der Seewege ideal, um heimlich entsprechende Informationen zu sammeln. Hinzu kommt: Russland könne dort ungestört agieren, denn offiziell gebe es ein Tauchverbot. Von Vorteil sei auch, dass dort am Wrack angebrachte Gerätschaften anders als auf dem sandigen Ostsee-Meeresboden kaum auffielen und fest montiert werden könnten.
Finnland und Estland antworteten zumindest allgemein auf eine Anfrage. Das estnische Außenminnisterium erklärte, man beobachte gemeinsam mit den Verbündeten genau die Vorgänge in der Ostsee, wobei Russland seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine aggressiver auftrete. Der zuständige finnische Grenzschutz erklärte, dass man aus operativen Gründen keine Details zu möglichen Überwachungsmaßnahmen veröffentliche.
Finnland habe jedoch ein umfassendes Verständnis über russische Geheimdienstaktivitäten im eigenen Land. Zwischen 2021 und 2024 sei der spezielle Schutz für das Wrack pausiert gewesen, um die Untersuchung neuer Hinweise zum Untergang der „Estonia“ zu ermöglichen. Die russische Regierung ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet.
Streng geheime Einheit
Für solche Unterwasserspionage, wie sie am Wrack der „Estonia“ vermutet wird, ist in Russland die Hauptverwaltung Tiefseeforschung zuständig, bekannt unter dem russischen Akronym GUGI. Diese streng geheime Einheit existiert wohl seit den 1960er-Jahren und ist nicht etwa der Marine, sondern direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt. Zu den Aufgaben der GUGI-Gruppe gehört die Spionage und Sabotage unter Wasser, beispielsweise das Ausforschen von kritischer Infrastruktur wie Unterseekabeln und Pipelines europäischer Staaten.
GUGI verfügt über eine Flotte an Spezialschiffen, die offiziell als Forschungsschiffe deklariert sind, und über umfangreiche Ausrüstung wie Mini-U-Boote, Tauchroboter sowie leistungsstarke Sonare und Scanner verfügen, um unter Wasser spionieren zu können. Zu dieser sogenannten „akademischen Flotte“ gehört auch das Schiff „Yantar“, das in den vergangenen Jahren auffällig oft über Unterwasserinfrastruktur in Nord- und Ostsee aufgetaucht ist, und das in NATO-Kreisen als eines der wichtigsten Spionageschiffe Russlands gilt. Die britische Marine begleitete die „Yantar“ eng mit eigenen Schiffen, als es Anfang des Jahres nahe der Küste fuhr.
Eine Aufgabe der GUGI-Gruppe ist es, die spezifischen Geräusche von gegnerischen Schiffen, allen voran U-Booten, aufzuzeichnen. Zu diesem Zweck werden Sensorsysteme wie Unterwassermikrofone (Hydrophone) unbemerkt in den Regionen ausgebracht, in denen die Schiffe vermutet werden. Diese Operationen finden unter größter Geheimhaltung statt. In der NATO geht man davon aus, dass Russland für die Positionierung von derartiger Spionagetechnik nicht nur die angeblichen Forschungsschiffe wie die „Yantar“ einsetzt, sondern auch U-Boote, zivile Schiffe wie Fischkutter oder Frachter, und zunehmend auch unbemannte Unterwasserdrohnen.
Westliche Technik im Einsatz
Eine internationale Recherche von NDR, WDR und SZ hat gerade gezeigt, wie russische Geschäftsleute über ein Netzwerk von Firmen jahrelang im Westen Technik zur Unterwasser-Beobachtung beschafft haben. Im Mittelpunkt stand eine Firma auf Zypern. Es ging um Geschäfte im Wert von rund 50 Millionen Dollar.
Die Güter wurden Unterlagen zufolge teilweise über Umwege nach Russland verbracht und dort auch für den Bau eines umfassenden Spähsystems in der Arktis mit dem Projektnamen „Harmonie“ (übersetzt aus dem Russischen) benutzt. Dabei handelt es sich um ein Unterwasser-Sensoriksystem in der Barentssee, das westliche U-Boote aufspüren und dadurch das strategisch bedeutsame russische Atomwaffenarsenal in der Arktis schützen soll. Russland hat auf Fragen zur Unterwassersensorik bislang nicht geantwortet.
„Russian Secrets“
Der „Russian Secrets“-Recherche liegen Unternehmensdaten der vergangenen Jahre zugrunde, die das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) erhalten hat. Weitere Unterlagen lagen der Recherchekooperation NDR/WDR/Süddeutsche Zeitung und dem niederländischen TV-Magazin Pointer vor.
Für die Recherchen wurden außerdem Satellitendaten unterschiedlicher Anbieter und nautische Daten von Marine Traffic, Global Fishing Watch und NautoShark genutzt.
An den Recherchen waren Journalistinnen und Journalisten von Le Monde (Frankreich), L´Espresso (Italien), ICIJ (USA), Kyodo (Japan), NRK (Norwegen), Pointer (Niederlande), SVT (Schweden), The Times (Großbritannien), Washington Post (USA), NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung (Deutschland) beteiligt.
Sensor-Systeme
Während es sich bei „Harmonie“ um ein weitverzweigt ausgebautes Unterwasser-Warnsystem in russischen Gewässern handeln soll, gilt es laut westlichen Sicherheitskreisen als ausgemacht, dass ähnliche, wenn auch weniger umfassende Ausspähsysteme von Russland andernorts in den Weltmeeren installiert sind, wie eben möglicherweise am Wrack der „Estonia“.
Aus Sicherheitskreisen erfuhren NDR, WDR und SZ, dass an anderer Stelle bereits vor Jahren Unterwassersensorik in der Ostsee gefunden worden sei. Es gebe zudem Hinweise, dass nicht nur in der Barentssee, sondern auch in der Ostsee nicht nur einzelne Geräte, sondern ganze Systeme mit Sensoren und Schaltstellen verbaut seien.
Über entsprechende Erkenntnisse ist bislang nur wenig bekannt: Anfang 2024 hatte Litauen offiziell berichtet, dass in der kurischen Nehrung ein Hydroakustik-Sonar eines russischen Typs gefunden wurde. Man veröffentlichte von dem offenbar nicht mehr funktionsfähigen Gerät sogar ein Foto. In litauischen Berichten hieß es, dass es ähnliche Funde wenige Jahre zuvor ebenfalls in Litauen, Großbritannien und Irland gegeben habe. Auch in Lettland soll es der Recherche zufolge eine solche Feststellung gegeben haben.
Sensoren in deutschen Gewässern
Auf eine Anfrage dazu reagierte lediglich das irische Militär. Allerdings hieß es, dass man aus operativen Gründen nichts über aktuelle maritime Operationen mitteile. Eine Recherche der britischen Sunday Times vor wenigen Monaten berichtete ebenfalls mit Bezug auf Sicherheitskreise von entdeckten mutmaßlich russischen Spionage-Sensoren vor den Küsten Großbritanniens.
Experten nehmen an, dass auch in deutschen Gewässern solche Sensoren installiert sind und vielleicht sogar bereits gefunden wurden. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums erklärte auf Nachfrage lediglich allgemein, dass man Aktivitäten unter Wasser überwache, die sich „gegebenenfalls gegen maritime kritische Infrastruktur richten oder der Spionage dienen“. Dezidierte Auskünfte auf einen Fragenkatalog wurden abgelehnt, da dies „Rückschlüsse auf unsere Fähigkeiten im Bereich der Aufklärung, Ortung und Erfassung in der Dimension ‚Unterwasser‘ zulassen“, so der Sprecher.









