Völkerrecht
Warum der Internationale Strafgerichtshof unter Druck steht
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag soll Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen – und Haftbefehle gibt es unter anderem gegen Putin und Netanjahu. Doch oft bleiben die Gerichtssäle leer und die Ankläger stehen unter enormem Druck.
Der Internationale Strafgerichtshof, global bekannt als International Criminal Court (ICC), hat seine Arbeit 2002 aufgenommen. Das unabhängige, internationale Gericht in Den Haag soll politische und militärische Führer, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression oder des Völkermords schuldig gemacht haben, anklagen und verurteilen.
Es ist ein Vertragsstaatengericht, das sich auf das Rom-Statut beruft. 125 Staaten haben es derzeit ratifiziert und sollten eigentlich mit dem Internationalen Strafgerichtshof kooperieren. Dennoch kommt das Gericht bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen nur schleppend voran. Woran liegt das?
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Mangelnde Kooperation der Vertragsstaaten
Zwar haben sich 125 Vertragsstaaten zur uneingeschränkten Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof verpflichtet, aber nicht alle halten sich daran. Derzeit sind 33 mutmaßliche Kriegsverbrecher, gegen die der Internationale Strafgerichtshof Anklage erhoben hat, auf freiem Fuß. Nur sechs Angeklagte befinden sich gerade in Den Haag in Haft, darunter der ehemalige philippinische Präsident Rodrigo Duterte.
Zu den prominentesten Angeklagten auf freiem Fuß zählen der ehemalige sudanesische Staatschef Omar al Bashir, der russische Präsident Wladimir Putin und der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu. Und es gibt viele Länder, die aus politischen Gründen nicht bereit sind, sie festzunehmen.
Auch Bundeskanzler Friedrich Merz fühlt sich an den Haftbefehl offenbar nicht gebunden. Kurz nach der Bundestagswahl sagte Merz, bei einem möglichen Deutschlandbesuch Netanjahus würde er Mittel und Wege finden, wie dieser dem Haftbefehl entgehen könne.
Strukturelle Schwächen des Internationalen Strafgerichtshofs
Ein Problem des Strafgerichtshofs ist, dass er keine eigene Polizei hat, um Flüchtige selbst zu verfolgen. Und es gibt keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Vertragsstaaten, wenn sie sich verweigern, mutmaßliche Kriegsverbrecher zu verhaften und auszuliefern. Der niederländische Strafverteidiger Geert-Jan Knoops bezeichnet den Internationalen Strafgerichtshof deshalb als „zahnlosen Tiger“.
Und unter den 125 Vertragsstaaten fehlen die wichtigsten Großmächte: Weder die USA noch Russland, China, Indien und auch Israel erkennen den Internationalen Strafgerichtshof an. Das schwächt die Macht und das Ansehen des Gerichts. Zudem behindern sie die Arbeit des Gerichts, indem sie zum Beispiel Sanktionen aussprechen, Ermittler einschüchtern oder internationale Haftbefehle ignorieren.
Einschüchterung und Angriffe gegen das internationale Strafgericht
Einschüchterungsversuche gegen Menschen, die am Internationalen Strafgerichtshof tätig sind, gehören zum Alltag. 2020 verhängte die erste Trump-Regierung Sanktionen gegen die damalige Chefanklägerin Fatou Bensouda. Die gambische Juristin hatte angefangen, in Afghanistan nicht nur gegen die Taliban, sondern auch gegen US-Soldaten zu ermitteln.
2022 vereitelte der niederländische Geheimdienst den Versuch eines russischen Spions, als Praktikant am Internationalen Strafgerichtshof zu arbeiten. 2023 wurde das Gericht Opfer eines Cyberangriffs, der die Systeme monatelang außer Betrieb setzte. Im Juli 2025 folgte ein zweiter großer Angriff.
Im Mai 2024 veröffentlichte der „Guardian“ einen Untersuchungsbericht, demzufolge Israel fast ein Jahrzehnt lang seine Geheimdienste eingesetzt hat, um ranghohe Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs zu schikanieren und Ermittlungen zu behindern. Im Juni 2025 verkündete Andrew Cayley seinen Rückzug. Der Jurist hatte am Internationalen Strafgerichtshof die Ermittlungen gegen Israel und die Hamas geleitet. Er erklärte, dass er die Bedrohungen und anonymen Telefonanrufe nicht mehr aushalte.
In seiner zweiten Amtszeit verhängte Trump, als Antwort auf den Haftbefehl gegen Israels Regierungschef Netanjahu, Sanktionen gegen die Chefankläger und mehrere Richter des Internationalen Strafgerichtshofs. Zu den Strafmaßnahmen gehören Einreiseverbote und das Einfrieren von Besitz in den USA. Zudem dürfen amerikanische Unternehmen und Bürger keine Geschäfte mehr mit den betroffenen Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs machen.
Weltgericht unter Erfolgsdruck
Aber der Internationale Strafgerichtshof wird nicht nur von seinen Gegnern unter Druck gesetzt, auch die Befürworter wollen Erfolge sehen. Deshalb geht das Gericht inzwischen auch eher ungewöhnliche Wege.
Vor den eigentlichen Gerichtsverfahren werden Vorverfahren durchgeführt, bei denen der Angeklagte üblicherweise anwesend ist. Im September 2025 wurde erstmals ein Vorverfahren ohne den Angeklagten eröffnet – denn Joseph Kony ist seit 2005 flüchtig. Seine Terrormiliz hat in Uganda Tausende Kinder als Soldaten missbraucht. Auch ihm selbst werden mehrere Kriegsverbrechen zu Last gelegt. Die Richter wollen mit dem Verfahren den Druck auf die Regierungen in der Region aufrechterhalten, weiter nach dem Angeklagten zu fahnden. Und sie wollen den Opfern, die seit 20 Jahren auf Gerechtigkeit warten, zeigen, dass das Gericht nicht untätig ist.
Die Ausnahme könnte zur Regel werden, befürchtet Strafverteidiger Geert-Jan Knoops. Auch wenn er strikt dagegen ist. „Es darf keinesfalls so weit kommen, dass ein wichtiges Grundprinzip über Bord geworfen wird, nur weil der ICC unter Erfolgsdruck steht und es ihm an Angeklagten fehlt, denen er den Prozess machen kann.“ Prozesse um Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Abwesenheit des Angeklagten zu führen, wäre aus seiner Sicht „ein Alptraum für die Verteidigung und würde die Legitimität des Gerichts antasten“.
Rechtsexperten sehen den Strafgerichtshof gerade vor der größten Bewährungsprobe seines Bestehens. André Nollkaemper, Völkerrechtsprofessor von der Universität Amsterdam, glaubt, dass der Internationale Strafgerichtshof sich behaupten wird. Aber er sagt auch: „Das Völkerrecht hat an Kraft eingebüßt. Ich merke es im Hörsaal. Vor 25 Jahren spürte man den Ehrgeiz und den Idealismus der Studierenden. Sie wollten mit Hilfe des Völkerrechts die Welt verbessern. Diese Zeiten sind vorbei.“
Beitrag: Kerstin Schweighöfer
Onlinetext: rey