Schweiz: Wo Guten Tag Allegra heißt

Schweiz Wo Guten Tag Allegra heißt

Sent · Auf einem Bauernhof in einem kleinen Schweizer Dorf anpacken – ein Urlaubserlebnis der anderen Art: So lässt es sich dort vom Alltagstrubel abschalten.

Sent ist ein Schweizer Dorf wie aus dem Bilderbuch.

Foto: Dirk Engelhardt

Sent ist ein Dorf in Schweizer Kanton Graubünden, wie es im Buche steht. Die Grenze zu Österreich und Italien ist von hier nicht weit. Umgeben ist Sent von hohen Bergen über 3000 Metern, auf denen im April noch Schnee liegt. Rund 1000 Einwohner wohnen im Dorf in alten Dorfhäusern, man kennt sich. In Sent spricht man rätoromanisch, die Schulkinder lernen diese alte Sprache in der Grundschule. Natürlich spricht jeder auch Schweizerdeutsch, und oft auch Italienisch und Englisch.

Es gibt in Sent alles, was ein Dorf so braucht: da ist ein kleiner Supermarkt, zwei Gasthäuser, eine Post, zwei Friseure, eine Schule, eine Apotheke, zwei Bäckereien, ein Milch-und Käseladen, Tischlereien und einige kleine Geschäfte. Die Häuser sind traditionell meist eine Kombination aus Viehstall und Wohnhaus, wobei der Eingang in den Stall im Untergeschoss ist. So lebte man früher nachhaltig, denn das Vieh „heizte“ die Wohnung darüber. Heute gibt es noch rund 20 Bauern im Dorf, die Kühe, Schafe, Ziegen und Hühner halten, zum Teil als Bio-Bauern. Eine Besonderheit in Sent sind die „Graffiti“, die die Hauswände schmücken. „Die ältesten sind 400 Jahre alt“, erzählt Heidi Laurent, eine geborene Senterin, die sich bestens mit den Sgraffiti auskennt. In der Butia Schlerin, einem alten Dorfhaus, bietet die agile Frau Kurse in Porzellanmalerei an – wobei die alten Motive der Sgraffiti auf Tassen oder Teller gemalt werden. Heidi Laurent weist auf einen Giebel eines riesigen Dorfhauses. Dort verläuft ein Doppelwellenband, auch „der laufende Hund“ genannt. Dieser Schmuck steht für die Lebenslinie und den ewigen Lauf des Universums. Unter dem Dach sind an der Stelle, wo sich der Dachboden befindet, zwei winzige Fenster zu sehen. „Die sind dafür da, der Seele den Aufstieg zum Himmel zu ermöglichen“, sagt Laurent. Die Sgraffiti auf den alten Dorfhäusern enthalten Motive aus aller Welt. Laurent vermutet, dass damals diese Art der Malerei in Mode war und die wohlhabenden Bürger des Dorfes ihre Häuser damit schmückten. Zu den Motiven gehören viele esoterische und magische Muster – etwa der sechszackige Stern, der für die Verbindung der Elemente steht und für die Einheit des männlichen und des weiblichen Prinzips. Die Nymphe mit zwei Fischschwänzen gilt als Beschützerin des Wassers und seiner Schätze, und sie schützt auch vor Krankheiten und Sünden. Der Venusstern, ein Ornament mit einem Stern in der Mitte, ist die Beschützerin der Gärten und gleichzeitig die Göttin der Liebe und Schönheit.

„An den alten Häusern sind die Sgraffiti auf dem Kalkputz ausgekratzt“, erklärt Laurent die Arbeitsweise. Wer heute ein Haus in Sent baut, beauftragt manchmal eine Firma, um Sgraffiti aufzutragen. „Doch diese neuen Sgraffiti sind meist nicht mehr gekratzt, sondern aufgemalt“, erklärt Laurent.

Auf dem Bauernhof von Familie Pua können Gäste selbst mit anpacken, zum Beispiel bei der Heufütterung.

Foto: Dirk Engelhardt

Wie überall in den Dörfern der Schweiz plätschern in Sent auf vielen Plätzen Brunnen. Das Wasser ist bestes Trinkwasser, man kann es direkt trinken oder in eine Flasche abfüllen. Früher haben die Frauen aus dem Dorf hier auch Wäsche gewaschen – das machen heute allerdings meist die Waschmaschinen.

Eine Familie in Sent, die noch Tiere hält, sind die Puas. Neben ihrem Wohnhaus, das drei Ferienapartments hat, ist der Stall, in dem 110 Schafe, 18 Ziegen und 34 Hühner leben. Das Heu, das die Tiere jeden Tag zum Fressen bekommen, müssen die Puas nicht kaufen, sie ernten es im Sommer von den eigenen Alpwiesen. Wenn Feriengäste möchten, können sie beim Füttern morgens und abends mithelfen. Das dauert seine Zeit, denn die Tiere fressen täglich mehr als eine halbe Tonne Heu! Mit der Mistgabel wird das Heu in den Futtertrögen verteilt, und dann beginnt meist ein wildes Gerangel um die besten Happen. Nach dem Heu kommt Silage, die sogar noch begehrter bei den Tieren ist. Als dritten Gang erhalten die Tiere Zuckerrübenschnitzel, und zum Abschluss noch etwas Endsilage. Für die Hühner gibt es Legemehl, Körner und manchmal auch einige Küchenabfälle. Die weißen Hühner picken den ganzen Tag auf dem großen Misthaufen herum, in dem sie Würmer und andere Dinge finden.

Erst im Mai wird die Arbeit auf dem Hof weniger – dann kommen die Schafe auf die Alp. Gut behütet verbringen sie den Sommer mit zwei Schafhirten und den übrigen Schafen vom Dorf auf der Alp Laver, in mehr als 2000 Meter Höhe. Im Oktober kehren sie dann ins Tal zurück. Auf dem Maiensäß etwas oberhalb des Dorfes haben die Puas noch ein altes Bauernhaus, in dem eine weitere Ferienwohnung ist, und noch einen Schafstall. Doch wer denkt, dass dies alles Arbeit genug ist, hat sich getäuscht: Vater Pua ist hauptberuflich Busfahrer bei der örtlichen Busgesellschaft. Trotzdem ist er meist gutgelaunt: „Ich mag die Arbeit mit den Tieren, und sie gibt mir die Motivation, die ich für das Busfahren brauche“, so ist seine Denkweise. Nur Busfahren allein als Job – das könne sich Andri Pua nicht vorstellen.

Sein Bruder Jon betreibt in der Nachbarschaft einen Bauernhof mit 50 Milchkühen. Dort fängt die Arbeit sogar schon jeden Tag um 5 Uhr in der Früh an – denn 50 Kühe wollen gemolken werden, eine nach der anderen. Feriengäste können hier zuschauen, mithelfen ist da etwas schwieriger, da die Arbeitsabläufe komplexer sind. Vor dem Melkstand bildet sich im Stall meist eine Schlange aus Kühen, denn die Kühe wollen gemolken werden. Bevor das Melkgerät an das Euter gesetzt wird, säubert Pua die Zitzen mit Desinfektionsmittel. Alles ist hier sehr sauber, „die Kontrolle vom Amt kann hier nie etwas finden“, sagt Jon Pua mit einem verschmitzten Lächeln. An einigen Stellen im Dorf und in der Molkerei von Sent kann man die frischen Produkte wie Eier, Joghurt und Käse direkt kaufen. Rund 500 Liter Milch liefert der Bauer jeden Tag an die Molkerei, die daraus qualitativ hochwertigen Käse produziert.

„Gerade für Kinder aus der Stadt ist ein Aufenthalt hier superspannend“, sagt Carolin Pua, denn Kids aus der Großstadt kennen Bauernhöfe höchstens noch von den Beiträgen der Farmfluencer, die auf TikTok oder Instagram vom Leben auf dem Bauernhof berichten. Live ist es aber viel spannender – und anstrengender!

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Sent · Auf einem Bauernhof in einem kleinen Schweizer Dorf anpacken – ein Urlaubserlebnis der anderen Art: So lässt es sich dort vom Alltagstrubel abschalten.

Sent ist ein Schweizer Dorf wie aus dem Bilderbuch.

Foto: Dirk Engelhardt

Sent ist ein Dorf in Schweizer Kanton Graubünden, wie es im Buche steht. Die Grenze zu Österreich und Italien ist von hier nicht weit. Umgeben ist Sent von hohen Bergen über 3000 Metern, auf denen im April noch Schnee liegt. Rund 1000 Einwohner wohnen im Dorf in alten Dorfhäusern, man kennt sich. In Sent spricht man rätoromanisch, die Schulkinder lernen diese alte Sprache in der Grundschule. Natürlich spricht jeder auch Schweizerdeutsch, und oft auch Italienisch und Englisch.

Es gibt in Sent alles, was ein Dorf so braucht: da ist ein kleiner Supermarkt, zwei Gasthäuser, eine Post, zwei Friseure, eine Schule, eine Apotheke, zwei Bäckereien, ein Milch-und Käseladen, Tischlereien und einige kleine Geschäfte. Die Häuser sind traditionell meist eine Kombination aus Viehstall und Wohnhaus, wobei der Eingang in den Stall im Untergeschoss ist. So lebte man früher nachhaltig, denn das Vieh „heizte“ die Wohnung darüber. Heute gibt es noch rund 20 Bauern im Dorf, die Kühe, Schafe, Ziegen und Hühner halten, zum Teil als Bio-Bauern. Eine Besonderheit in Sent sind die „Graffiti“, die die Hauswände schmücken. „Die ältesten sind 400 Jahre alt“, erzählt Heidi Laurent, eine geborene Senterin, die sich bestens mit den Sgraffiti auskennt. In der Butia Schlerin, einem alten Dorfhaus, bietet die agile Frau Kurse in Porzellanmalerei an – wobei die alten Motive der Sgraffiti auf Tassen oder Teller gemalt werden. Heidi Laurent weist auf einen Giebel eines riesigen Dorfhauses. Dort verläuft ein Doppelwellenband, auch „der laufende Hund“ genannt. Dieser Schmuck steht für die Lebenslinie und den ewigen Lauf des Universums. Unter dem Dach sind an der Stelle, wo sich der Dachboden befindet, zwei winzige Fenster zu sehen. „Die sind dafür da, der Seele den Aufstieg zum Himmel zu ermöglichen“, sagt Laurent. Die Sgraffiti auf den alten Dorfhäusern enthalten Motive aus aller Welt. Laurent vermutet, dass damals diese Art der Malerei in Mode war und die wohlhabenden Bürger des Dorfes ihre Häuser damit schmückten. Zu den Motiven gehören viele esoterische und magische Muster – etwa der sechszackige Stern, der für die Verbindung der Elemente steht und für die Einheit des männlichen und des weiblichen Prinzips. Die Nymphe mit zwei Fischschwänzen gilt als Beschützerin des Wassers und seiner Schätze, und sie schützt auch vor Krankheiten und Sünden. Der Venusstern, ein Ornament mit einem Stern in der Mitte, ist die Beschützerin der Gärten und gleichzeitig die Göttin der Liebe und Schönheit.

„An den alten Häusern sind die Sgraffiti auf dem Kalkputz ausgekratzt“, erklärt Laurent die Arbeitsweise. Wer heute ein Haus in Sent baut, beauftragt manchmal eine Firma, um Sgraffiti aufzutragen. „Doch diese neuen Sgraffiti sind meist nicht mehr gekratzt, sondern aufgemalt“, erklärt Laurent.

Auf dem Bauernhof von Familie Pua können Gäste selbst mit anpacken, zum Beispiel bei der Heufütterung.

Foto: Dirk Engelhardt

Wie überall in den Dörfern der Schweiz plätschern in Sent auf vielen Plätzen Brunnen. Das Wasser ist bestes Trinkwasser, man kann es direkt trinken oder in eine Flasche abfüllen. Früher haben die Frauen aus dem Dorf hier auch Wäsche gewaschen – das machen heute allerdings meist die Waschmaschinen.

Eine Familie in Sent, die noch Tiere hält, sind die Puas. Neben ihrem Wohnhaus, das drei Ferienapartments hat, ist der Stall, in dem 110 Schafe, 18 Ziegen und 34 Hühner leben. Das Heu, das die Tiere jeden Tag zum Fressen bekommen, müssen die Puas nicht kaufen, sie ernten es im Sommer von den eigenen Alpwiesen. Wenn Feriengäste möchten, können sie beim Füttern morgens und abends mithelfen. Das dauert seine Zeit, denn die Tiere fressen täglich mehr als eine halbe Tonne Heu! Mit der Mistgabel wird das Heu in den Futtertrögen verteilt, und dann beginnt meist ein wildes Gerangel um die besten Happen. Nach dem Heu kommt Silage, die sogar noch begehrter bei den Tieren ist. Als dritten Gang erhalten die Tiere Zuckerrübenschnitzel, und zum Abschluss noch etwas Endsilage. Für die Hühner gibt es Legemehl, Körner und manchmal auch einige Küchenabfälle. Die weißen Hühner picken den ganzen Tag auf dem großen Misthaufen herum, in dem sie Würmer und andere Dinge finden.

Erst im Mai wird die Arbeit auf dem Hof weniger – dann kommen die Schafe auf die Alp. Gut behütet verbringen sie den Sommer mit zwei Schafhirten und den übrigen Schafen vom Dorf auf der Alp Laver, in mehr als 2000 Meter Höhe. Im Oktober kehren sie dann ins Tal zurück. Auf dem Maiensäß etwas oberhalb des Dorfes haben die Puas noch ein altes Bauernhaus, in dem eine weitere Ferienwohnung ist, und noch einen Schafstall. Doch wer denkt, dass dies alles Arbeit genug ist, hat sich getäuscht: Vater Pua ist hauptberuflich Busfahrer bei der örtlichen Busgesellschaft. Trotzdem ist er meist gutgelaunt: „Ich mag die Arbeit mit den Tieren, und sie gibt mir die Motivation, die ich für das Busfahren brauche“, so ist seine Denkweise. Nur Busfahren allein als Job – das könne sich Andri Pua nicht vorstellen.

Sein Bruder Jon betreibt in der Nachbarschaft einen Bauernhof mit 50 Milchkühen. Dort fängt die Arbeit sogar schon jeden Tag um 5 Uhr in der Früh an – denn 50 Kühe wollen gemolken werden, eine nach der anderen. Feriengäste können hier zuschauen, mithelfen ist da etwas schwieriger, da die Arbeitsabläufe komplexer sind. Vor dem Melkstand bildet sich im Stall meist eine Schlange aus Kühen, denn die Kühe wollen gemolken werden. Bevor das Melkgerät an das Euter gesetzt wird, säubert Pua die Zitzen mit Desinfektionsmittel. Alles ist hier sehr sauber, „die Kontrolle vom Amt kann hier nie etwas finden“, sagt Jon Pua mit einem verschmitzten Lächeln. An einigen Stellen im Dorf und in der Molkerei von Sent kann man die frischen Produkte wie Eier, Joghurt und Käse direkt kaufen. Rund 500 Liter Milch liefert der Bauer jeden Tag an die Molkerei, die daraus qualitativ hochwertigen Käse produziert.

„Gerade für Kinder aus der Stadt ist ein Aufenthalt hier superspannend“, sagt Carolin Pua, denn Kids aus der Großstadt kennen Bauernhöfe höchstens noch von den Beiträgen der Farmfluencer, die auf TikTok oder Instagram vom Leben auf dem Bauernhof berichten. Live ist es aber viel spannender – und anstrengender!

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