Langzeitanalyse Songtexte immer simpler und negativer
Stand: 12.12.2025 10:18 Uhr
„Love Is Embarrassing“ statt „I Wanna Know Your Name“. Songtexte sind in den vergangenen 50 Jahren laut einer Studie einfacher und negativer geworden. Zwischendurch aber kehrte sich der Trend immer mal wieder um.
Eine neue Langzeitstudie zeigt: Die Texte großer Chart-Hits sind in den vergangenen 50 Jahren immer einfacher und oft auch düsterer geworden. Doch in kollektiven Stressphasen wie der Corona-Pandemie passiert etwas Erstaunliches: Plötzlich landen weniger negative Songs in den Charts – als würde sich das Publikum in der Krise stärker nach Musik sehnen, die emotional stabilisiert und aufhellt.
Wie sich Songtexte verändert haben
1973 klangen erfolgreiche Popsongs in den USA noch sehr positiv, wie zum Beispiel beim Lied „I Wanna Know Your Name“ von den Intruders. 13 Wochen hielt es sich in den US-Single-Charts. Die Band will den wahren Namen einer geliebten Person erfahren, um ihr wirklich näherzukommen.
Fünfzig Jahre später stehen in denselben Charts Songs wie beispielsweise „Love Is Embarrassing“ von Olivia Rodrigo aus dem Jahr 2023. Sie singt darüber, wie unangenehm es ihr ist, dass sie sich für eine einseitige, unbedeutende Liebe verausgabt hat, die es nicht wert war. Und im Text wiederholt sich deutlich mehr und er ist weniger komplex.
Warum Popsongs heute negativer sind
Der Psychologe Markus Foramitti von der Uni Wien hat mit seinem Team Stress-Wörter, Stimmung und Text-Komplexität von rund 20.000 Songs aus den US-amerikanischen Top 100 Charts ausgewertet. Das Ergebnis: Die Texte erfolgreicher Songs werden in den letzten 50 Jahren negativer und weniger komplex. „Es gibt einige Dinge, auf die man das zurückführen kann“, sagt Foramitti. „Stress in der Gesellschaft verstärkt sich allgemein, das sehen wir jetzt auch in anderen psychologischen Studien. Und da können wir das vergleichen und sehen, das geht miteinander gut einher.“
Eine andere Erklärung könne sein, dass sich Sprache auch einfach verändere und es weniger Zensur zum Beispiel in Musik und Medien gebe. Vor 50 Jahren sei es in den USA schwieriger gewesen beispielsweise ein Schimpfwort im Radio zu spielen, als es heute ist. Die Verwendung von Schimpfworten wurde in der Analyse als negativ bewertet.
Musik als Spiegel gesellschaftlicher Stimmung
Musik als emotionaler Spiegel der Gesellschaft – die Idee ist an sich nicht neu, schon die alten Griechen, genauer Platon, haben davon gesprochen. Die neue Untersuchung, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Scientific Reports, gehört zu den ersten Studien, die auf so großer Datenbasis und über einen langen Zeitraum Musik-Charts, Krisen und gesellschaftliche Stimmung zusammendenken.
Corona-Pandemie: Trend kehrt sich plötzlich um
Der Trend zu negativeren Songtexten habe sich während großer Krisen, etwa der Corona-Pandemie, interessanterweise abgeschwächt und sogar ins Positive umgekehrt, sagt Foramitti: „Das lässt uns jetzt darauf zurückschließen, dass Personen in extremen, außergewöhnlichen, traurigen Situationen eher zu Musik gravitieren, die nicht mit ihrer eigentlichen Stimmung übereinstimmt. Man könnte das als eine Form von Escapism bezeichnen, um vor dieser Realität ein bisschen in Kunst oder Medien zu flüchten.“
In der Psychologie ist dieses Verhalten als Mood-Management-Theorie bekannt. Die Studie konnte zeigen, dass sich dieses Emotions-Management eines Kollektivs in den Charts widerspiegelt.
Warum 9/11 die Musikcharts kaum veränderte
Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center haben sich stimmungsmäßig im Vergleich zur Corona-Pandemie nur schwächer und statistisch weniger robust im Chartgeschmack der Amerikaner gezeigt. Psychologe Foramitti erklärt sich das so: „Dadurch, dass 9/11 sehr, sehr kurzfristig war, nicht lange andauerte, und der Stress danach nicht so präsent war, wie es bei Covid-19 der Fall war. Das könnte also ein schwächerer Stress gewesen sein und deswegen nicht zu einer emotionsinkongruenten, also nicht mit der Emotion übereinstimmenden, Musikpräferenz geführt haben“, erklärt Foramitti.
Ein unerwarteter Wendepunkt: 2016
Einen überraschenden Effekt haben die Forschenden in ihrer Analyse im Jahr 2016 entdeckt. Eigentlich geht der Trend laut Daten in den vergangenen 50 Jahren hin zu einfacheren Texten. Ab 2016 finden die Forschenden jedoch einen plötzlichen Shift hin zu wieder komplexeren Texten, erklärt Foramitti. „Das war eigentlich etwas, was wir nicht erwartet haben“, so der Psychologe. Daher sei eine Interpretation schwierig. „Wir wissen, dass der politische Diskurs seitdem stärker polarisiert ist. Wir wissen auch, es hat in den USA eine Präsidentschaftswahl 2016 gegeben.“ Aber ob ein Zusammenhang zu den Songtexten besteht, ist unklar. Dazu brauche es weitere Untersuchungen.
Die Studie zeigt damit, wie eng unsere Musikauswahl und die Stimmung einer Gesellschaft miteinander verknüpft sind – und dass wir Charts nicht nur hören, um uns wiederzuerkennen, sondern auch, um uns aus schwierigen Zeiten herauszuziehen.










