Stand: 16.10.2025 10:42 Uhr
Demenz ist nicht allein eine Frage des Alters. Auch Kinder können von fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen des Gehirns betroffen sein. Kinderdemenz ist zwar selten, führt aber oft zu einem frühen Tod.
Mehr als 250 verschiedene Erkrankungen verbergen sich hinter dem Begriff Kinderdemenz. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Schrittweise zerstören sie Nervenzellen im Gehirn oder Rückenmark. Manche beginnen schon im Babyalter, andere erst Jahre später.
Die ersten Symptome sind oft unauffällig, erklärt die Göttinger Neuropädiaterin Jutta Gärtner. Seit Jahren befasst sie sich mit solchen neurodegenerativen Erkrankungen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen. „Die Kinder verlieren Fähigkeiten, die sie vorher konnten,“ erklärt sie. „Zum Beispiel mit dem Löffel essen oder sicher gehen, oder auch rennen oder den Kopf halten.“
Erste Symptome schwer zu erkennen
Gerade die ersten Symptome seien für Eltern und Kinderärztinnen oder -ärzte oft schwer einzuordnen, weil Kinderdemenz so selten ist. Auch im Schulalter seien die Veränderungen zunächst unauffällig. Man sehe vielleicht, dass das Kind etwas schlechter schreibt als zuvor.
Falls sie andauern, können jedoch auch solche kleinen Rückwärtsschritte wichtige erste Hinweise sein, sagt die Ärztin: „Wenn man als Kinderarzt von einer Mutter hört, dass das Kind Fähigkeiten verliert, ist das ein Alarmsignal. Den Dingen sollte man wirklich nachgehen.“
Dann sei ein Computertomographie-Scan des Gehirns angebracht. Denn je früher diese Krankheiten diagnostiziert werden, desto besser die Chancen, dass man sie behandeln kann. Zumindest bei den Formen, die überhaupt therapiert werden können.
Manche Erkrankungen sind heilbar
Eine davon ist die x-chromosomale Adrenoleukodystrophie (X-ALD). Diese Patienten können bestimmte Fettsäuren nicht abbauen. So bleiben giftige Abfallstoffe im Gehirn übrig, die die Nervenzellen abtöten.
Aber diese Form der Kinderdemenz kann man tatsächlich behandeln, sagt Jutta Gärtner: mit einer Knochenmarktransplantation. „Wenn ich das im Frühstadium mache, dann habe ich diese Kinder gerettet. Dann schreitet bei diesen Kindern die Neurodegeneration nicht mehr fort“, erklärt die Ärztin ARD Gesund.
Vergleichsweise leicht zu behandeln ist auch die zerebrale Foliatdefizienz. Bei diesen Kindern und Jugendlichen fehlt das Vitamin B9, also Folsäure, in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit. Sie haben es im Blut, aber wegen eines Transportdefekts gelangt es nicht in die Flüssigkeit, die das Rückenmark umgibt. „Wenn man den betroffenen Patienten die Folsäure direkt in das Hirnwasser zuführt und das rechtzeitig beginnt, dann entwickeln diese Patienten keine Neurodegeneration.“
Aber für die meisten Formen der Kinderdemenz gibt es weiterhin keine Heilung. Je weiter sich die Erkrankungen entwickeln, desto gravierender die Symptome. Darunter sind Lern- und Bewegungsstörungen sowie Krampfanfälle, so das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNR). Häufig kommt es auch zu Hör- und Sehstörungen. Im Verlauf der Erkrankung werden die Kinder immer pflegebedürftiger, können schließlich das Bett nicht mehr verlassen. Viele sterben schon vor ihrem 20. Geburtstag.
Gendefekte sind die Auslöser
Die Ursachen der Kinderdemenz liegen in beschädigten Genen. Diese genetischen Defekte stören den Stoffwechsel, so dass wichtige Bausteine gar nicht erst ins Gehirn gelangen. Oder, wie bei der X-ALD: Es lagern sich schädliche Stoffwechselprodukte im Gehirn ab und verursachen dort massive Probleme.
Fast alle Kinderdemenzerkrankungen zählen als selten, einige sogar als ultraselten – zum Beispiel die Multiple Sulfatasedefizienz, bei der wichtige Enzyme im Körper fehlen. Von ihr ist rund ein Kind unter 500.000 betroffen. Andere, wie die x-chromosomale Adrenoleukodystrophie, treten viel häufiger auf. Ungefähr einer von 17.000 Menschen trägt das fehlerhafte Gen in sich. Es macht sich aber erst später im Leben bemerkbar. Dann erkranken fast nur Männer daran.
Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf spezialisiert sich ein Team aus Ärztinnen, Ärzten und Forschenden auf eine weitere, vergleichsweise häufige Gruppe von Kinderdemenzkrankheiten: die Neuronale Ceroid Lipfuszinose (NCL). 13 Formen gibt es laut der NCL-Stiftung. Bei jeder liegt der Fehler auf einem anderen Gen. Aber alle haben denselben Effekt: Auch hier sammeln sich fettähnliche Stoffe in den Nervenzellen an und beschädigen sie. In der Regel sind zunächst die Augen betroffen und die Kinder erblinden nach einem bis drei Jahren, das stößt rund einem von 30.000 Kindern zu.
Forschung eröffnet neue Behandlungswege
Für manche betroffene Familien liefert die Forschung einen Hoffnungsschimmer, sagt die Neuropädiaterin Jutta Gärtner. „Anlass zum Optimismus geben natürlich gentherapeutische Verfahren, zum Beispiel auch die Genschere CRISPR-CAS, die eben gezielt Mutationen in den Genen ansteuern und korrigieren kann.“
Die Reparatur der Gene ist ein enorm wichtiger Ansatz – aber die Wissenschaft will auch andere Wege finden, um diese Krankheiten zu bekämpfen. Am DZNR wird beispielsweise erforscht, wie sich fehlende Stoffe im Gehirn der Kinder ersetzen lassen. Außerdem suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Biomarkern, also körpereigenen Hinweisen, um die Erkrankungen möglichst früh zu erkennen.
Existierende Medikamente auf dem Prüfstand
Gleichzeitig rücken auch längst existierende Medikamente in den Fokus. Zum Beispiel Sildenafil, bekannt geworden als der Viagra-Wirkstoff. Beim Leigh-Syndrom, einer weiteren Form der Kinderdemenz, hat sich gezeigt, dass Sildenafil bestimmte Prozesse in den Zellen aufhalten kann. Das hat der Düsseldorfer Molekularmediziner Alessandro Prigione mit seinem Forschungsteam an Zellproben im Labor nachgewiesen. Jetzt will das Team klinische Studien durchführen, um herauszufinden, ob der Wirkstoff die Krankheit tatsächlich auch bei den jungen Patienten bekämpft.
Wenn existierende Wirkstoffe wie in diesem Fall neue Anwendungen finden, nennt sich das Drug Repurposing. Dieser Ansatz hat einen großen Vorteil: Die „alten“ Medikamente können sehr viel schneller eingesetzt werden als solche, die neu entwickelt worden sind. Denn diese Wirkstoffe sind schon auf ihre Sicherheit geprüft und zugelassen worden.
Das ist besonders wichtig im Bereich der seltenen Krankheiten, sagt Jutta Gärtner. Denn die pharmazeutische Industrie entwickelt hier fast nie neue Wirkstoffe. Denn die Kosten sind zu hoch und die Patientengruppen zu klein, um hier Gewinne zu machen.
Wenig Forschungsgelder für seltene Krankheiten
Also wird vor allem an den Universitäten und Kliniken nach Behandlungsmethoden geforscht. Auch bei den schon existierenden Wirkstoffen ist das teuer und aufwendig. Und gerade in diesem Bereich gebe es zu wenig Forschungsgelder, kritisiert Jutta Gärtner. Die Suche nach Therapien für häufige Erwachsenenkrankheiten werde zum Beispiel sehr viel besser finanziert.
„Eltern und Kinder hoffen auf Therapien für mehr als 250 verschiedene Erkrankungen“, sagt sie. „Und da fehlt wirklich in Deutschland das Fördervolumen. Es braucht mehr Förderung für seltene Erkrankungen in unserem Land.“










