Es läuft die zweite Minute im WM-Qualifikationsspiel zwischen Italien und Estland. Italiens Kapitän Giovanni Di Lorenzo hört ein Klingeln. Er blickt sich um, sieht ein vibrierendes Smartphone auf dem Rasen in Höhe der Mittellinie und informiert sofort den portugiesischen Schiedsrichter. Der unterbricht dieses so wichtige Fußballspiel für die Squadra Azzurra. Joao Pinheiro hebt das Telefon auf und übergibt es dem vierten Schiedsrichter an der Seitenlinie. Das Gerät ist offenbar vor Spielbeginn einem der vielen Helfer aus der Hose gefallen. Wer hat da angerufen, kurz nach Spielbeginn, in diesem existenziellen Match?
Es kann eigentlich nur eine dieser warnenden Stimmen aus der Vergangenheit gewesen sein. Man konnte sie in den vergangenen Tagen zuhauf im italienischen TV und in den Zeitungen vernehmen. Da war die Rede von „Schicksalsspiel“, „Leidenschaft“, aber auch von „Scheitern“ und „Angst“. Für die „Gazzetta dello Sport“ pendelte Italien vor dem Match am Freitag „zwischen Apokalypse und Verzweiflung“. Früher war die Teilnahme am wichtigsten Turnier der Welt Formsache. Viermal hat Italien den WM-Titel gewonnen, zuletzt 2006. Seither ist das Verhältnis zu diesem Wettbewerb gestört. Es wirkte, als bedürfe es einer nationalen Anstrengung, um die Dinge langsam wieder in Ordnung zu bringen. Damit der einstige, seinen Gegnern angsteinflößende Fußballriese wieder an jenen Platz am Tisch der Großen gelange, der ihm qua Geburtsrecht zusteht.

Gennaro Gattuso, 47, bekam von all dem Tamtam um das klingelnde Telefon gar nichts mit. Er stand an der Seitenlinie, die schwarzen Kleider klebten eng am nicht mehr tadellos geformten Körper. Der Commissario Tecnico, geboren am südlichen Ende des italienischen Stiefels, ruderte mit den Armen, gab seinen Spielern Anweisungen, wie sie zu stehen, wie sie sich zu bewegen und den Weg zum Tor zu suchen haben. „Ich habe überhaupt nichts gemerkt“, erzählte der Trainer nach dem Spiel. „Ich schwöre, ich habe nichts mitbekommen. Ich war in Wettkampf-Trance.“
Wettkampf-Trance, das war es, was sie suchten. So konzentriert kannte man den Wadelbeißer aus Kalabrien auch als Spieler beim AC Mailand oder in der Nationalelf, als Weltmeister 2006. Aggressiv am Rande der Unsportlichkeit, bissig, penetrant, konzentriert, dem Sieg mit fast allen Mitteln untertan. So sollte nun auch seine Mannschaft auftreten, beim Debüt als Nationaltrainer. „In der Nationalmannschaft musst du ans Gewinnen denken, egal ob sauber oder schmutzig. Sich gegenseitig helfen, keinen Zentimeter nachgeben: Italiens Stärke war schon immer, im Schützengraben zu leiden.“ So konstatierte Gattuso vor dem Spiel. Irgendwas zwischen Kicken und Kleinkrieg, das ist sein Metier.
Ein neues Gesicht der Hoffnung
Ähnlich kam es dann auch. „Ich habe seit langer Zeit keine Nationalelf mehr gesehen, die von der ersten Minute an derart auf Angriff spielte, Pressing machte und direkt das Tor suchte“, sagt Xavier Jacobelli, Kommentator des „Corriere dello Sport“ am Tag nach dem Spiel. Das 5:0 gegen Estland ist in erster Linie ein Pflichtergebnis gegen den 126. der FIFA-Weltrangliste, dessen Star der in dieser Saison noch nicht zum Einsatz gekommene Torwart Karl Hein von Werder Bremen ist. Vor allem aber hat das Match Italien ein neues Gesicht der Hoffnung beschert – Gattuso. Er hat eine bewegte Trainerkarriere hinter sich, mit Stationen auf Kreta, in Pisa, jeweils zwei Jahren beim AC Mailand und beim SSC Neapel und kurz bei Hajduk Split.
Nirgends überzeugte er so richtig und für die Nationalelf war er auch nur zweiter Kandidat nach Claudio Ranieri, der absagte. Jetzt aber ist Gattuso der Vater jenes Erweckungserlebnisses, das sich am Freitag im Stadion von Bergamo zutrug. 24.000 berauschte Tifosi skandierten nicht nur den White-Stripes-Song, der zum Soundtrack Italiens bei der WM 2006 geworden war („Seven Nation Army“), sondern auch den Namen des Nationaltrainers. „Das ist ein Neuanfang, es ist der erste Morgen der Welt“, schrieb „La Repubblica“ entrückt.
Kimmichs Tor als Symbol
Mit Gattuso hat Italien nun eine neue Projektionsfläche, auf der sich das Land wieder eine glorreiche fußballerische Zukunft ausmalen will. Denn nicht nur die jüngere, auch die jüngste Geschichte Fußball-Italiens ist so dunkel, dass dieser Wille abhandengekommen schien. Symbolisiert wurde die dumpfe Gegenwart von jenem besonderen Tor im Nations-League-Viertelfinale im März gegen Deutschland (3:3), als Torwart Gigi Donnarumma noch mit seiner Abwehr haderte und Jamal Musiala einen blitzschnell ausgeführten Eckball von Joshua Kimmich ins leere Tor schob.
Es machte seit längerer Zeit keinen Spaß mehr, Tifoso der italienischen Nationalmannschaft zu sein. Die von zwei verpassten WM-Teilnahmen desillusionierten Fans sind nach dem schwachen Abschneiden der Azzurri bei der EM 2024 (0:2 im Achtelfinale gegen die Schweiz) und der bislang denkbar schlecht angelaufenen WM-Qualifikation emotional weit entfernt von jener Mannschaft, die das Land repräsentieren soll und dies jahrzehntelang ja auch formidabel tat. Die Fans haben sich entliebt, ein Sich-Abwenden in Raten. Was ist nur passiert im Verhältnis zwischen jenem fanatischen Fußballvolk und seiner einst so stolzen Länderauswahl? „Die Squadra Azzurra ist die liebste Mannschaft der Italiener“, erklärt Kommentator Jacobelli, „aber nur, wenn ihre Spielweise dieser Liebe auch entspricht.“
Das gruselige Triptychon verhindern
Italien hat sich, gewiss auch mangels Qualität seiner Spieler, im Taktischen verzettelt. Es gibt große Taktiker in der Geschichte der italienischen Fußballtrainer, angefangen bei Arrigo Sacchi bis hin zum im Juni entlassenen Vorgänger Gattusos, Luciano Spalletti. Der gilt als Meister seines Fachs, schaffte das fußballerische Wunder, in Neapel einen Meistertitel zu gewinnen. Er drückte sich auf den kurzen Treffen mit der Nationalelf aber so kompliziert aus, dass die Spieler seine taktischen Finessen einfach nicht verstanden. Das Ergebnis: eine 0:3-Niederlage im Juni gegen Norwegen, wieder droht Italien eine WM zu verpassen. Es wäre das dritte Mal hintereinander, ein gruseliges Triptychon.
Am Montag trifft Italien in seinem vierten Gruppenspiel in Budapest auf Israel und könnte mit einem Sieg auf Rang zwei der Gruppe eins hinter Norwegen rücken. Der berechtigt aber auch nur zur Teilnahme an den Playoffs, an denen Italien 2017 und 2022 scheiterte. Der Weg führt also zurück zu eher primitiven Primärimpulsen. „Als Gattuso spielte, gab es auf dem Feld nur Blut, Schweiß und Tränen“, erinnerte sich „La Repubblica“. Und keine taktischen Exzesse. Vorne bot der Coach zwei Stürmer auf, Moise Kean und Mateo Retegui. Kean gelang nach 58 Minuten der erste Treffer, Retegui bereitete ihn vor und erzielte Treffer zwei (69.) und drei (89.). „Zwei Stürmer in der Squadra Azzurra habe ich schon ewig nicht mehr gesehen“, bemerkte Experte Jacobelli.
Die Flügelspieler Di Marco und Politano schlugen nimmermüde Flanken. Vier Abwehrspieler um Torschütze Alessandro Bastoni (92.) formten die Verteidigung, im Zentrum ackerten Nicolò Barella und vor allem Sandro Tonali. Der 25-Jährige verkörperte die Seele des italienischen Spiels, ein Gattuso der Generation Z. Omnipräsent, bissig, etwas eleganter als das Original. Dem Trainer rechneten auch die Spieler ihren Emotional-Erfolg an. Italien glaubt jetzt wieder an sich, ein bisschen zumindest. „Gattuso hat uns die nötige Bissigkeit gegeben“, sagte Moise Kean. „Wir hatten den vom Trainer gewünschten Hunger, er bringt uns unglaubliche Energie“, erklärte Alessandro Bastoni. Jetzt gilt es für Gattusos Team, auf jenem hohen Energielevel auszuharren. Zweikampf für Zweikampf, am besten bis zur WM im nächsten Sommer.