Der estnische Premierminister Kristen Michal macht seine Wut sehr deutlich. Es sei „absolut inakzeptabel“, dass sich russische MIG-31-Kampfjets am Freitag für zwölf Minuten über dem Golf von Finnland im estnischen Luftraum aufgehalten haben. Da Estland wie seine baltischen Nachbarn Lettland und Litauen keine eigene Luftwaffe besitzt, waren es italienische Kampfflugzeuge vom Typ F-35, die aufstiegen und die russischen Maschinen aus dem Luftraum des Bündnispartners vertrieben.
Noch am Abend telefonierte Michal mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte und verkündete auf der Plattform X, dass sein Land Beratungen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags beantragt habe. Diese werden in der kommenden Woche in Brüssel stattfinden. Dass Michal eine „geeinte und starke“ Antwort des Bündnisses auf diese Provokation forderte, ist nicht überraschend: Die Balten fordern – unter anderem aus der eigenen historischen Erfahrung – nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Härte gegenüber Moskau. Doch der Verweis auf Artikel 4 zeigt: Dies wird nicht als eine normale Situation eingestuft und das sollen Verbündete wie Gegner wissen.
In 76 Jahren wurde nur neun Mal auf Artikel 4 verwiesen
Konkret heißt es im 1949 verabschiedeten Gründungsvertrag der Mitgliedsländer des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“
Mit dem berühmten Artikel 5 des Nato-Vertrags, der sogenannten Beistandsverpflichtung der Mitgliedsländer, wonach „ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen“ werde, hat der von Estland begonnene Prozess jedoch nichts zu tun.
Auf Artikel 4 bezog sich auch Polens Premier Donald Tusk, als vor wenigen Tagen 19 russische Drohnen in den Luftraum seines Landes eindrangen. Damals betonte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), wie selten der Antrag auf diese Konsultationen ist: „Das letzte Mal, dass dieser Prozess ausgelöst worden ist, war kurz nach dem Beginn der Vollinvasion in der Ukraine. Und das macht auch deutlich, dass wir hier nicht über eine Petitesse reden und dass die Nato sich dazu verhalten wird.“ Im Winter 2022 hatten neben Polen und den Balten auch Bulgarien, Tschechien, Rumänien und die Slowakei entsprechende Anträge gestellt.
Im Internet listet die Nato die anderen Fälle auf. Im Winter 2014 verlangte Polen eine Debatte, nachdem Russland seine Militäraktionen gegen die Ukraine begonnen hatte – und zwischen 2003 und 2020 beantragte die Türkei fünf Artikel-4-Beratungen, die mit den Bürgerkriegen in Syrien und im Irak zu tun hatten.
Solange Trump Putin kein Zeichen setzen will, dürfte wenig geschehen
Da in der mittlerweile auf 32 Mitglieder angewachsenen Allianz alle Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen, werden diese selten schnell getroffen – oder auch gar nicht. „Die Konsultation zwischen den Mitgliedern ist das Herzstück der Nato“, heißt es auf ihrer Website zu Artikel 4. Und weiter: Die Diskussion des Themas kann „möglicherweise zu einer Art von gemeinsamer Entscheidung oder Handlung im Namen der Allianz führen“.
Wenn also nur ein Nato-Mitglied Bedenken bremst, geschieht erst mal wenig außer einer Erklärung des Generalsekretärs. Nach der von Polen beantragen Artikel-4-Sitzung verkündete Mark Rutte, dass „die Verbündeten ihre Solidarität mit Polen ausgedrückt und Russlands rücksichtsloses Verhalten verurteilt“ hätten. Mehr war offenbar nicht drin, denn US-Präsident Donald Trump schien die Provokation von Russlands Präsident Wladimir Putin ziemlich egal zu sein. Und auch wenn diese Regel nirgends festgeschrieben steht, so ist sie zentral für die Nato: Es braucht die Führung der USA.
Dies gilt besonders für den Artikel 5, die gegenseitige Beistandsverpflichtung. Denn wie die anderen Nato-Partner einem angegriffenen Verbündeten im Ernstfall helfen würden, das entscheiden diese selbst. Laut Vertrag treffen sie jene „Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt (…), die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“. Von Zehntausenden Soldaten bis zu etwas Material ist also alles drin – und zu einer wirksamen Abschreckung gegenüber Russland sind nur die USA in der Lage.
Aus diesem Grund sind Europäer und Kanadier seit Monaten so erpicht darauf, Donald Trump bei Laune und die USA im Bündnis zu halten.