Im Jahr 1994 veröffentlichte Lars Gustafsson ein Buch mit dem Titel „Ett minnespalats“ („Ein Palast der Erinnerung“). Er gab dem Buch den Untertitel „vertikala memoarer“, und solche senkrecht und kunstvoll nebeneinander gebauten Erinnerungen, Projektionen, Geschichten enthält auch der große, jüngste Roman des 1978 in Stockholm geborenen Schweden Jonas Hassen Khemiri, der jetzt auf Deutsch in absolut untadeliger Übersetzung vorliegt: „Die Schwestern“.
Das mehr als 700 Seiten umfassende Buch wird zusammengehalten durch zwei Familiengeschichten. Zum einen die der titelgebenden Schwestern Mikkola, zum anderen die des über weite Strecken als Ich-Erzähler fungierenden Jonas, dessen Vater und Mutter und zwei jüngere Brüder. Die Schwestern und Jonas haben jeweils eine Prägung durch Familienbande nach Tunesien, einmal von der mütterlichen, einmal von der väterlichen Seite her. Der Vater der Schwestern, jener Mikkola, stammt aus Finnland; seine Familiengeschichte hält ein auf der ganzen Welt emblematisch bekanntes und verbreitetes Bild bereit: „Mittagspause auf einem Wolkenkratzer / Lunch atop a Skyscraper“. Ein Mikkola soll auf diesem Werbefoto zu sehen sein, das 1932 während der Entstehung des Rockefeller Centers beim Bau des Gebäudes aufgenommen wurde (vermutlich von Charles C. Ebbets erstellt).
Ein Mikkola auf dem Stahlträger?
Ein solches Detail hilft bei der Lektüre des wirklich großen Romans in dem Maße, dass man es im Palast der Erinnerungen keinesfalls vergisst. Die Schwestern machen sich in einem späten Teil des Romans auf nach New York, um einen Beleg für einen Mikkola auf dem Stahlträger 250 Meter über der Erde zu finden. Das schaffen sie nicht; der Autor baut stattdessen eine fiktive, zweieinhalb Seiten lange Liste mit Namen von Arbeitern, die das Rockefeller Center erbaut haben, und fügt eine Fußnote an mit der Nachricht, dass von den 40.000 Arbeitern im Archiv dieses Bauwerks nichts dokumentiert ist.

Wir haben also eine ausufernde Familiengeschichte in Händen, deren Schauplätze sich über ganz Europa und Nordafrika, auch die USA erstrecken. Wobei Stockholm (von seinen Einwohnern bescheiden-arrogant staden, also „Die Stadt“ genannt) besonders häufig Mittelpunktsort ist. Dort sind die Brüder aufgewachsen, und irgendwann in den Adoleszenzjahren kreuzen die Mikkola-Schwestern ihren Weg. Khemiri hat eine große Begabung, ein Vermögen, Geschichten zu erzählen und konsequent auf ihren Punkt zu kommen. Er macht das aber auf Umwegen – so, als ob er nicht diese Begabung hätte und sich dauernd unterbrechen ließe. Tausende Fragen ergeben sich auf dem Weg des Erzählens, alle sollen und wollen beantwortet werden, neuen Atem holen kann man nur mit der Erkenntnis: „Warum, verdammt noch eins, erzähle ich jetzt genau dies und nicht das?“
Als Bartender und Putzmann
„Die Schwestern“ besteht aus sieben Büchern, die Zeiträume von einem Jahr bis zu einer Minute umfassen, wobei die Minute in naher Zukunft, im Jahr 2035, liegt. So entsteht im Roman eine Akkumulation von Zeit. Gleichzeitig, besser: parallel zu den sorgsam gebauten, sehr langen Sätzen, in denen Jonas von seinem Leben bis ins Erwachsenenalter erzählt, geschieht, wie von ungefähr, die Erzählung von den Schwestern. Ein allwissender Erzähler springt immer wieder in den Roman hinein – die Schwestern Ina, Evelyn Anastasia und deren Mutter leben als Nachbarn zu Jonas und seiner Familie im Stockholmer Stadtteil Södermalm; dort werden sie miteinander bekannt, vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie eben alle Halbtunesier sind.
Der Vater der Jungs versucht sich durchzuschlagen als Verkäufer von gefälschten Uhren, als Bartender im Wirtshaus „Tre Backar“ und Putzmann. Dorthin darf Jonas manchmal mitkommen. Doch der Vater landet in tiefster Depression, verlässt die Familie und das Land; heraus kommt auch, dass er ein Verhältnis mit der Mutter der Schwestern hatte. Die ist von Paranoia und Selbstmordgedanken geplagt, plötzlich ist sie mit den Töchtern spurlos verschwunden. Denn die Mutter ist sich sicher, dass ein Fluch auf ihrer Familie lastet, der nur durch ein Treffen mit seiner Urheberin in Nordafrika gebannt werden kann.
So strömen die Geschichten weiter und weiter, wobei bemerkenswert bleibt, dass einer der Dreh- und Angelpunkte skandinavischen Erzählens, die Schilderung von Aufenthalten in der Natur und den Ferien in ihr, bis auf eine Episode ausgespart bleibt: Ina folgt ihrem Freund und Liebhaber Hector, der aus besten alten schwedischen Familienverhältnissen stammt, mit in das Sommerhaus der Familie an der schwedischen Westküste, in Halland. Den dortigen, in manchen schwedischen Familien nachgerade klassischen Aktivitäts- und Freizeitterror, den Hectors Mama entfesselt („Wollt ihr nicht an den Strand gehen?“ – „Schlaft ihr immer noch?“), schildert Khemiri mit einer wunderbar einfachen Ironie und Distanz, die das Ende der Episode (einfach vor Mamas Terror abhauen, wozu gibt es Autos) ohne Konfliktaustragung möglich macht.
Außerhalb der Fiktion kann das Leben voller Schmerzen und unglaublicher Verläufe sein, ein Cluster von Augenblicken ohne Rückkehr. Die Fiktion macht die Rückkehr immer möglich, diese Erkenntnis macht die Größe dieses Romans aus. Der befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen dem privaten und dem öffentlichen, zwischen dem echten und dem konstruierten Leben und führt dabei in eine Gegenwart, der niemand so recht traut und der gegenüber Empathie nicht angebracht ist. Das Buch hinterlässt den Eindruck größter Präzision und gediegenen Handwerks – es ist ein großer Versuch, das Leben umfassen zu können, wenn auch scheinbar zufällig. Sollte so künftige europäische Literatur aussehen, dann muss einem um sie nicht bang werden.
Jonas Hassen Khemiri: „Die Schwestern“. Roman. Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Rowohlt Verlag, Hamburg 2025. 736 S., geb., 26,– €.