Stand: 20.11.2025 05:00 Uhr
Zum Terroranschlag von Hanau gab es bisher keinen Prozess vor einem deutschen Gericht. Die Familie des ermordeten Hamza Kurtović kämpft seit Jahren für Aufklärung. Jetzt legt sie Verfassungsbeschwerde ein.
In wenigen Minuten erschoss der rechtsextremistische Täter am 19. Februar 2020 neun Menschen mit Migrationsgeschichte. Das Ausmaß und die Brutalität der Tat sind erschreckend. Immer wieder wird die Tat mit den Morden des rechtsterroristischen NSU verglichen – allerdings wurden in Hanau alle in einer Nacht begangen.
Weil der Täter sich selbst tötete, gab es keinen Strafprozess gegen ihn, denn gegen Tote wird nicht ermittelt. Es müsse aber ein Strafverfahren unter anderem wegen Behördenversagens geben, meinen die Angehörigen von Hamza Kurtović, der bei dem Anschlag getötet wurde. Seine Familie legt nun in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein.
Im Zentrum steht ein verschlossener Notausgang
Hamza Kurtović war 22 Jahre alt, als er in der Arena Bar in Hanau von dem rassistischen Täter ermordet wurde. Seine Familie versucht seit fünf Jahren zu erreichen, dass es zu einem Prozess gegen den Barbetreiber, Hanauer Polizisten und Verantwortliche der Stadt kommt. Behördenversagen habe die Tat nämlich mit ermöglicht.
Der Vorwurf lautet: fahrlässige Tötung. Der Barbetreiber habe auf Anordnung der Polizei den Notausgang regelmäßig verschlossen gehalten. Bei den vielen Razzien in der Bar habe so verhindert werden sollen, dass jemand durch den Notausgang entkommt. Hintergrund für die Razzien sei das Polizeiprogramm „Kompass“ gewesen. Hanau war seit 2017 für dieses Programm eine Modell-Kommune. Die Polizei habe durch die vielen Razzien gute Ermittlungsergebnisse präsentieren wollen, so die Vermutung der Familie Kurtović. Polizei und Barbetreiber haben allerdings stets bestritten, dass es eine Anordnung gegeben habe, den Notausgang verschlossen zu halten.
Tatort Arena Bar
Die Arena Bar war der letzte Tatort des Hanau-Anschlags. Dort saßen die Gäste in der Falle, als der Täter in die Bar kam und gezielt auf sie schoss. Dass der Notausgang der Bar abgeschlossen war, stellte der Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags 2023 in seinem Abschlussbericht fest. Er kam zu der Erkenntnis, „dass der Notausgang verschlossen war und die anwesenden Gäste davon ausgingen“.
Dennoch stellte die Staatsanwaltschaft Hanau alle Ermittlungen zum Notausgang ein. Sie begründete das anfangs damit, die „Verschlussverhältnisse des Notausgangs“ in der Tatnacht könnten nicht „mit hinreichender Sicherheit aufgeklärt werden“. Außerdem sei nicht mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit““ festzustellen, dass die Flucht durch einen offenen Notausgang geglückt wäre.
Wie ist der Komplex Notausgang rechtlich zu bewerten?
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hanau, alle Ermittlungen einzustellen, wurde von der hessischen Generalstaatsanwaltschaft bestätigt. Auch ein Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main, mit dem ein Strafverfahren erzwungen werden sollte, hatte keinen Erfolg. Rechtlich argumentieren die hessischen Staatsanwälte so: Für eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung reiche es nicht aus, dass jemand sorgfaltswidrig den Notausgang verschlossen habe.
Nach geltender Rechtsprechung müsse außerdem gewiss sein, dass die Barbesucher auch zum Notausgang gelaufen wären, wenn der offen gewesen wäre. Daran könne man aber zweifeln. Denn sie hätten auf ihrer Flucht an der Eingangstür vorbeirennen müssen. Aus dieser hätte jeden Moment der Täter kommen können, der im davorliegenden Kiosk gerade drei Menschen erschossen hatte. Es komme also auch auf das Verhalten der Opfer an und darauf, ob diese den gefährlichen Fluchtweg gewählt hätten. Weil das nicht sicher sei, habe die verschlossene Tür im juristischen Sinne keine Ursache für die Tötungen gesetzt.
Zweifel an den Ermittlungen
Die Ermittlungen zum Geschehen in der Bar seien nicht ausreichend gewesen, sagt dagegen die Familie von Hamza Kurtović. Viele Fragen seien offen und könnten nur in einem Strafprozess geklärt werden.
Zum Beispiel die Frage, ob die Barbesucher tatsächlich zum Notausgang gerannt wären, wenn der denn offen gewesen wäre. Hierzu hatte eine Psychologin im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags ausgesagt, dass Menschen grundsätzlich nicht in eine Gefahr hinein, sondern von einer Gefahr wegrennen. Gleichzeitig hatte sie aber betont, dass jemand, der weiß, dass ein Notausgang zu ist, deshalb dort nicht hinrennen wird. Und dass man grundsätzlich die Fluchtmöglichkeit wählt, die die „höchste Erfolgswahrscheinlichkeit“ hat.
Die Barbesucher waren alle Stammgäste und wussten in der Tatnacht, dass der Notausgang verschlossen war. Wäre er offen gewesen, wäre er der einzige Fluchtweg gewesen. Die Opfer der Tat hätten also bei offenem Notausgang zwei Möglichkeiten gehabt: Entweder in den hinteren Teil der Bar zu flüchten oder zum Notausgang zu rennen, vorbei an der Eingangstür, aus der jederzeit der Täter auftauchen konnte. Die erste Alternative war eine sichere Falle, die zweite wäre eine Chance zur Flucht gewesen, wenn auch eine gefährliche. Hätte die Flucht zum Notausgang damit nicht doch die „höchste Erfolgswahrscheinlichkeit“ gehabt?
Der Notausgang wäre die einzige Chance gewesen
Die Familie von Hamza Kurtović ist sich sicher, dass die jungen Männer in der Bar ihre einzige Chance genutzt hätten und zu einem offenen Notausgang gerannt wären. Das taten sie in der Tatnacht nur deshalb nicht, weil sie wussten, dass der Ausgang verschlossen war. Die Hanauer Staatsanwälte bleiben dennoch dabei: Man könne sich nicht sicher sein, dass die Barbesucher zu einem offenen Notausgang gerannt wären. Doch gerade zu dieser Frage sei nicht gründlich genug ermittelt worden, sagt die Familie Kurtović.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch ein Gutachten des Londoner Recherchekollektivs Forensic Architecture. Das kam schon 2022 zu dem Ergebnis: Den meisten Barbesuchern hätte die Flucht vor dem Täter gelingen können, wenn der Notausgang offen gewesen wäre. Die fünf jungen Männer in der Bar hätten sich wahrscheinlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Die Staatsanwaltschaft habe die Zeit für die Flucht falsch berechnet. Tatsächlich sei fast doppelt so viel Zeit zur Verfügung gestanden, als bei ihren Ermittlungen zugrunde gelegt wurde.
Wurden wichtige Zeugen nicht ausreichend befragt?
Die Familie Kurtović beklagt auch, dass zu der Frage, ob die Polizei angeordnet habe, den Notausgang abzuschließen, weder Polizisten noch wichtige Zeugen ausreichend befragt worden seien. So gibt es eine schriftliche Zeugenaussage, die der ARD-Rechtsredaktion vorliegt. Ein Zeuge versichert, dass er 2017 persönlich eine polizeiliche Anordnung zum Notausgang mitbekommen habe. Er selbst sei bei einer Razzia in der Arena Bar festgenommen und eine Stunde lang in Handschellen vor der Bar festgehalten worden. Dabei habe er mit angehört, wie ein Polizist den Barbetreiber angewiesen habe, den Notausgang künftig geschlossen zu halten.
Vor dem hessischen Untersuchungsausschuss hatte der Barbetreiber bestritten, dass es eine solche Anordnung gegeben habe. Auf Anfrage der ARD-Rechtsredaktion hatte auch das zuständige Polizeipräsidium geantwortet, dass durch die Polizei niemals die Weisung oder Aufforderung ergehe, Notausgänge zu verschließen.
Welche Chancen hat die Verfassungsbeschwerde?
Die Familie von Hamza Kurtović kann in Karlsruhe nur Erfolg haben, wenn Verfassungsrecht verletzt wurde. Ihre Verfassungsbeschwerde hat Strafrechtsprofessor Dennis Bock geschrieben. Er meint, dass das Oberlandesgericht Frankfurt am Main eine „verfassungsrechtliche Schutzpflicht missachtet“ habe, indem es „weitere Ermittlungen oder eine Anklageerhebung“ abgelehnt hat. Angehörige von Mordopfern hätten nämlich „einen Anspruch auf staatliche Strafverfolgung“.
Das OLG Frankfurt hätte einen Strafprozess eröffnen oder weitere Ermittlungen anordnen müssen. Zu den offenen Fragen hätten weitere Zeugen befragt und Sachverständige angehört werden müssen.
Rechtlich stützt sich die Verfassungsbeschwerde auch auf eine frühere Entscheidung aus Karlsruhe, die nahelegt, dass Angehörige in solchen Fällen ein Handeln der Justiz verlangen können. Etwa auf eine Beschwerde der Angehörigen der auf dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ zu Tode gekommenen Offiziersanwärterin. Doch Karlsruhe betonte damals einen wichtigen Grundsatz: Die Eltern eines Gewaltopfers haben einen Anspruch, dass die Justiz sorgfältig und effektiv ermittelt.
Hat die hessische Justiz den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Strafverfolgung verletzt? Ist sie dem Verdacht, dass Behördenversagen die rassistische Tat mit ermöglicht haben könnte, nicht effektiv genug nachgegangen? Diesen Fragen liegen nun dem Verfassungsgericht vor. Wann eine Entscheidung kommt, ist noch nicht abzusehen.









