Stand: 14.09.2025 05:16 Uhr
In NRW sind heute rund 13,7 Millionen Menschen zur Kommunalwahl aufgerufen. Die Wahl gilt als erster großer Stimmungstest für die schwarz-rote Bundesregierung. Umfragen zufolge könnte die AfD deutlich zulegen.
Vor einer Bäckerei in Gelsenkirchen-Heßler haben sie ihren Stand aufgebaut. In AfD-Blau, auf dem Schirm steht ihr Slogan „Mut zur Wahrheit“. Einer der Wahlkämpfer vor Ort ist Norbert Lorenz. Er ist neu in der AfD, erst vor kurzem beigetreten. Weil er nicht nur seine Stimme abgeben, sondern für seine Überzeugungen und um Stimmen kämpfen will.
Lorenz hat früher SPD und CDU gewählt, auch mal die Grünen. Er sagt, nach einer kurzen Zeit, die er in Bayern gelebt hat, habe er sein Ruhrgebiet aber nicht mehr wiedererkannt, nicht wegen der Menschen, sondern wegen des allgemeinen Verfalls. Er spricht von einem Unsicherheitsgefühl: „Wie dreckig es geworden ist, wie man auch als Mann Angst hat, abends mit dem Hund rauszugehen.“
Gemeinsam mit dem Oberbürgermeisterkandidaten Norbert Emmerich will er die AfD-Themen Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit in den Stadtrat bringen. „Wir sehen ja, wie schlecht es vielen geht, da wollen wir Lösungen anbieten“, erklärt er. Viele, mit denen sie am Stand ins Gespräch kommen, wählen die Partei nicht zum ersten Mal.
„Die Wahl hat nichts mit Frust zu tun, das hat mit Überzeugung zu tun“, sagt ein Gelsenkirchener, der sich am Wahlkampfstand interessiert mit den AfD-Kandidaten unterhält.
Die wirtschaftliche Lage Gelsenkirchens verschärft die Unzufriedenheit. Die ehemalige Kohle- und Stahlhochburg hat die höchste Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen, fast jedes zweite Kind ist von Armut bedroht. Hinzu kommt, dass immer mehr Geschäfte schließen.
Rentnerin Marie-Luise Ruhl ist mit ihrer Freundin auf dem kleinen Wochenmarkt im Stadtteil Heßler unterwegs. Sie fühle sich fremd, sagt sie: „Es gibt ja auch kein vernünftiges Geschäft mehr, nur noch Ein-Euro-Läden.“ Trotz ihrer Enttäuschung lehnt sie die AfD aber ab: „Nein, Gott bewahre, die wähle ich nicht.“ Ihre Freundin nickt bestätigend. Aber sie fügt hinzu: „Ich tue mich dieses Mal schwer.“
Experte erwartet Verluste für SPD, CDU und Grüne
In Gelsenkirchen hat die AfD laut Umfragen eine große Chance auf den Wahlsieg. Sie könnte ihre Stadtratssitze verdoppeln. Die SPD hingegen würde viele Mandate einbüßen. Noch haben die Sozialdemokraten die meisten Sitze im Stadtrat, genau wie im benachbarten Duisburg oder auch in Dortmund. Doch nach dieser Kommunalwahl, sagen viele Wahlbeobachter, könnte das eben anders aussehen.
So wie Politikwissenschaftler Stefan Marschall von der Universität Düsseldorf. Er rechnet mit Verlusten für CDU und SPD. Mit Blick auf die Grünen erwartet er gar eine „Entgrünung von NRW.“ Die AfD würde hingegen zulegen. Die steigenden Lebenshaltungskosten, eine gefühlte, diffuse Unsicherheit und Zukunftsängste seien Gründe für die Wahlentscheidung.
Bei der Bundestagswahl im Februar führte das in Gelsenkirchen dazu, dass die AfD die meisten Zweitstimmen gewinnen konnte. 24,7 Prozent wählten dort die AfD. Ganz knapp dahinter mit 24,1 Prozent die SPD. Heißt aber auch: Mehr als 70 Prozent der Wählenden haben sich nicht für die AfD, sondern für eine andere Partei entschieden.
Eine von ihnen ist auf dem Wochenmarkt in Heßler unterwegs. Die blonde, mittelalte Frau, die ihren Namen nicht in den Medien sehen will, sagt: „Es geht nicht, dass die Migranten schuldig dafür gemacht werden, dass es wirtschaftlich nicht mehr läuft.“
Es müssten die zur Verantwortung gezogen werden, die für Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit gesorgt hätten. Vor allem, dass viele der alten Industrien geschlossen hätten und zu wenig neue Jobs geschaffen würden, sei ein riesiges Problem.
Die Unterschiede sind groß
Während die AfD im Ruhrgebiet an Boden gewinnt, zeigt sich woanders in NRW ein anderes Bild. In den Universitätsstädten Aachen und Bonn zum Beispiel haben die Wähler bei der vergangenen Kommunalwahl einen klaren politischen Wandel herbeigeführt – und zwar zugunsten der Grünen.
In Aachen wurden die Grünen mit einem historischen Ergebnis von 34,1 Prozent stärkste Kraft im Stadtrat. In Bonn erreichten sie 27,9 Prozent Stimmenanteil, sind die größte Fraktion im Rat der Stadt. Zudem stellen sie mit Katja Dörner die Oberbürgermeisterin, beendeten die langjährige Dominanz der CDU in der ehemaligen Bundeshauptstadt.
Die Wähler in diesen Städten, geprägt durch eine jüngere und bürgerliche Klientel mit Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz, sendeten vor fünf Jahren ein deutlich anderes Signal als die Menschen im Ruhrgebiet.
Erwartungsmanagement bei der CDU
SPD und CDU haben inzwischen große Probleme, ihre traditionellen Wählerschichten zu erreichen – und neue zu erschließen. Gerade für die CDU ein deutliches Warnzeichen. Sie stellt mit Hendrik Wüst den Ministerpräsidenten in einer schwarz-grünen Koalitionsregierung. Und muss bei diesen Kommunalwahlen mit einem schlechten Ergebnis rechnen.
Intern wird inzwischen Erwartungsmanagement betrieben – wenn die Partei landesweit ein Ergebnis zwischen 20 und 30 Prozent erziele, dann sei das „ordentlich“.
Das Prinzip Hoffnung
Viele Menschen in Nordrhein-Westfalen glauben nicht mehr daran, dass die traditionellen Volksparteien auf kommunaler Ebene die wirtschaftliche Wende schaffen können. Im Wahlkampf wirken nicht nur die Sozialdemokraten vielerorts ratlos.
Thomas Steinberg von der SPD Gelsenkirchen setzt trotzdem auf Zusammenhalt und das Prinzip Hoffnung: „Ich glaube immer noch an die Menschen, dass wir zusammenhalten müssen.“ Er sei bereit, bis zur Wahl weiterzukämpfen, um die Wähler zu überzeugen.
WDR-Umfrage: Viele unter 35 tendieren zur AfD
Vor allem junge Wähler fühlen sich dadurch nicht genügend angesprochen. Viele der unter 35-Jährigen tendieren inzwischen laut einer WDR-Umfrage zur AfD. 15 Prozent trauen der AfD die Lösung kommunaler Probleme zu. Auch wenn sie als rechtspopulistisch und in Teilen rechtsextremistisch gilt. Bei den über 65-Jährigen sind es gerade mal drei Prozent.
Die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen gilt als erster Stimmungstest nach der letzten Bundestagswahl Anfang des Jahres. Sie erfährt sogar internationale Aufmerksamkeit durch die Einmischung des US-Milliardärs Elon Musk. Musk hat über seine Plattform X mehrfach Wahlempfehlungen für die AfD ausgesprochen und die Partei als „letzte Hoffnung für Deutschland“ bezeichnet.
In Gelsenkirchen waren daher sogar Reporter der New York Times vor Ort, um über die Stimmung zu berichten. Denn auch außerhalb Deutschlands fragt man sich, wer am Ende die Nase vorn haben wird – die AfD oder doch noch SPD oder CDU.
In einer früheren Version hieß es, dass bei den Kommunalwahlen 2020 die Grünen in Münster stärkste Kraft wurden. Das ist falsch. Die Grünen gewannen zwar deutlich an Stimmen hinzu, die meisten Stimmen holte jedoch die CDU. Die Grünen wurden allerdings stärkste Kraft in Aachen. Zudem schrieben wir, dass die Grünen in Bonn einen Stimmenanteil von 26,3 Prozent erreichten. Tatsächlich waren es 27,9 Prozent.
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