Schottland Wo Meer und Steine sprechen
An kaum einem anderen Ort der Welt lässt sich die Steinzeit so hautnah erleben wie auf dem Orkney-Archipel. Das Leben auf den rauen Inseln im Norden Schottlands ist von Geschichte geprägt und vom Meer geformt.
Der Steinkreis „Ring of Brodgar“ ist größer als das legendäre Stonehenge.
Foto: Matthias Kutzscher
Die Häuser drängen sich vor Wind und Kälte schützend aneinander. Überdachte Gänge führen in Räume mit Betten, Schränken und Herd. An einem Regal lehnt ein Becken. Davor liegt die Feuerstelle, die das Zimmer gewärmt und beleuchtet hat. Die Wände sind kunstvoll geschichtet. Alles ist aus Stein. Wie auf einer Bühne zeigt das Dorf „Skara Brae“, wie die Menschen vor rund 5000 Jahren lebten. Hunderte uralte Orte liegen auf Orkney. Die Inseln sind ein Tempel der Steinzeit und mit ihren einsamen Klippen, Stränden und Heidewiesen eine Naturoase.
Auf dem fruchtbaren Archipel wohnten im Neolithikum wohl über 10.000 Leute. Vor allem auf der größten Insel „Mainland“. Sie pflasterten Wege, bemalten Keramik und schufen beeindruckende Bauten. Nicht weit von Skara Brae thront auf einer Landzunge umgeben von Seen und sanften Hügeln der „Ring of Brodgar“. Morgens umhüllt das Rosa der aufgehenden Sonne den Steinkreis. So weit nördlich sind die Tage im Sommer lang und die Nächte kurz. Austernfischer lärmen aufgeregt. Die Vögel mit den langen, roten Schnäbeln brüten in den Salzwiesen. 60 Megalithen standen hier einst, 27 recken sich noch immer dem Himmel entgegen.
Wie kleine Brüder verstecken sich die „Stones of Stenness“ daneben fast. Vier spitz zulaufende Steine ragen sechs Meter auf. Der Kreis ist der älteste des Archipels und wohl Teil einer Siedlung, die noch unter der Erde ruht. Weit sichtbar erhebt sich „Maeshowe“. Der Eingang des massigen Grabhügels ist so ausgerichtet, dass die Strahlen der untergehenden Sonne um den 21. Dezember die Hauptkammer erleuchten. Huldigten die Menschen am kürzesten Tag des Jahres dem Licht und der Wärme? Das neolithische Herz Orkneys ist eine geheimnisvolle Landschaft, in der Leben, Tod und Kosmos untrennbar verbunden zu sein scheinen.
Skara Brae ist eine der am besten erhaltenen Steinzeit-Siedlungen Europas.
Foto: Matthias Kutzscher
„Unsere Inseln lagen damals im Zentrum von Handelswegen. Die Menschen waren kultiviert und fähige Handwerker“, erzählt Andy Penn. Der Archäologe führt mit seiner Frau Karen über Westray im Norden des Archipels. Die Fähre aus dem Hauptort Kirkwall braucht 1,5 Stunden, Loganair 15 Minuten. Die beiden erwarten mich an der Landebahn und schließen eine Wette ab. Das machen hier alle. Zur Nachbarinsel Papa Westray geht laut Guinness-Buch der kürzeste Linienflug der Welt. Zwischen 50 und 120 Sekunden dauert er, je nach Wind. Darauf lässt sich setzen.
Obwohl sie nah beieinander liegen, unterscheiden sich die Inseln. Einige wie Hoy sind bergig, karg, rau. Westray ist eher flach und fruchtbar, mit Muschelbuchten und weißen Stränden. In den Dünen verstecken sich Ruinen der Wikinger. Die Siedlung Quoygrew war von 950 bis 1930 fast 1000 Jahre durchgehend bewohnt. Die Mythen der Nordmänner von Robbenmenschen und Seeschlangen erzählen sie sich bis heute. „Storytelling“ ist eine geschätzte Kunst auf Orkney. „Für eine Geschichte ist immer Zeit“, lacht Karen, die auf Westray geboren ist und nie wegwollte.
Nur drei Familien haben auf der Insel keinen Meerblick. Alle kennen sich. Keiner schließt das Auto ab. Doch das Leben kann hart sein. Neun Monate im Jahr regnet es, die übrige Zeit ist das Wetter schlecht. So unken die Einheimischen, die Schafe züchten, als Tourguides oder in der Fischerei arbeiten. Früher hätten sie Kabeljau gefangen, sagt Karen. Als der weggeblieben sei, wurden Krabben gejagt. Vor ein paar Jahren musste auch die Shrimps-Fabrik schließen, weil zu wenig in die Netze ging. Jetzt arbeiten 28 Leute auf Lachsfarmen. Mittags reicht sie in ihrem Haus, was Nachbarn herstellen: geräucherte Makrele, Farmhouse-Käse aus Kuhmilch, Kekse aus Sommergerste.
Karen und Andy Penn führen über die Insel Westray.
Foto: Matthias Kutzscher
Schreie fliegen durch die Luft. Wir stehen an den Klippen von „Noup Head“, die 80 Meter tief stürzen. Regen und Wind haben umkämpfte Brutplätze in den Sandstein modelliert. In Spalten und auf Kanten nistet eine der größten Seevogel-Kolonien Großbritanniens. Tausende Tordalken, Trottellummen und Seeschwalben sitzen wie Kieselsteine auf den steilen Felsen. Papageientaucher sind die Starts. „Für sie kommen Fans selbst aus Australien“, sagt Andy. Die taubengroßen Vögel wirken wie Comicfiguren mit ihren roten Flossen, den schwarz-weißen Federn und dem orange-blauen Schnabel. Leicht erstaunt und neugierig schauen die Augen aus dem Clownsgesicht.
Grau und nass hängt der Himmel über Mainland. Böen schütteln die Heide, auf der kaum ein Baum wächst. Ich sitze bei Michael Sinclair. Der 63-Jährige war Seemann und macht heute Kunst. Aus Holz drechselt der stämmige Mann Gefäße und Objekte. Er brennt filigrane Steinzeit-Symbole ein, trägt Blattgold auf und schnitzt Dekorationen, die an die Schuppenpanzer der Wikinger erinnern. „Natur und Geschichte inspirieren mich“, sagt Sinclair, der auf der Insel Sanday aufgewachsen ist. „Da musste man sich selbst helfen und kreativ sein. Jeder konnte ein Handwerk“, erzählt er. Sein Vater habe Maschinen repariert, ohne das gelernt zu haben.
Anpacken, probieren, unabhängig sein, gehört zu Orkney wie das Meer und der endlose Horizont. Auf den Inseln mit gerade 20.000 Einwohnern arbeiten erstaunlich viele Kunsthandwerker: Glasbläser, Malerinnen, Möbelbauer, Stoffdesignerinnen, Töpfer und etwa ein Dutzend Silberschmiede! „Das gibt uns eine Art Identität. Wir verstehen uns weder als Briten, noch als Schotten“, erklärt Martin Fleet, der mit seiner Mutter Sheila ein Schmucklabel betreibt. Die 100 Mitarbeiter der Firma kommen ausschließlich von den Inseln und jedes Juwel ist eine Hommage an ihre Welt voller Kraft und Magie.
Papageientaucher sind die Stars der Vogel-Kolonien auf Orkney.
Foto: Matthias Kutzscher
Über dem Strand von Scapa toben Wolken. Sonnenstrahlen zerreißen das Schwarz und schlucken den Wind. Zwei Dutzend Kanufahrer steuern auf die berühmte Bucht, die ein eisiges Grab für Menschen und Schiffe ist. 1939 torpedierte ein deutsches U-Boot den britischen Zerstörer „Royal Oak“ und riss über 800 Seeleute in den Tod. 20 Jahre vorher hatte sich die kaiserliche Hochseeflotte in Scapa Flow selbst versenkt.
Kurz vor Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags 1919 war das ein verzweifelter Versuch der deutschen Marine, in der Niederlage die Kontrolle zu wahren. Noch heute liegen einige Wracks als Mahnmal und Paradies für Taucher in den Tiefen des natürlichen Hafens. Ich treffe David Flanagan. Der Autor und Filmemacher sagt, dass fast jeder Fleck auf Orkney eine Geschichte habe. Und die Menschen der Inseln würden sie einfach weitererzählen.
Die Recherche wurde von Visit Scotland unterstützt.
Schottland Wo Meer und Steine sprechen
An kaum einem anderen Ort der Welt lässt sich die Steinzeit so hautnah erleben wie auf dem Orkney-Archipel. Das Leben auf den rauen Inseln im Norden Schottlands ist von Geschichte geprägt und vom Meer geformt.
Der Steinkreis „Ring of Brodgar“ ist größer als das legendäre Stonehenge.
Foto: Matthias Kutzscher
Die Häuser drängen sich vor Wind und Kälte schützend aneinander. Überdachte Gänge führen in Räume mit Betten, Schränken und Herd. An einem Regal lehnt ein Becken. Davor liegt die Feuerstelle, die das Zimmer gewärmt und beleuchtet hat. Die Wände sind kunstvoll geschichtet. Alles ist aus Stein. Wie auf einer Bühne zeigt das Dorf „Skara Brae“, wie die Menschen vor rund 5000 Jahren lebten. Hunderte uralte Orte liegen auf Orkney. Die Inseln sind ein Tempel der Steinzeit und mit ihren einsamen Klippen, Stränden und Heidewiesen eine Naturoase.
Auf dem fruchtbaren Archipel wohnten im Neolithikum wohl über 10.000 Leute. Vor allem auf der größten Insel „Mainland“. Sie pflasterten Wege, bemalten Keramik und schufen beeindruckende Bauten. Nicht weit von Skara Brae thront auf einer Landzunge umgeben von Seen und sanften Hügeln der „Ring of Brodgar“. Morgens umhüllt das Rosa der aufgehenden Sonne den Steinkreis. So weit nördlich sind die Tage im Sommer lang und die Nächte kurz. Austernfischer lärmen aufgeregt. Die Vögel mit den langen, roten Schnäbeln brüten in den Salzwiesen. 60 Megalithen standen hier einst, 27 recken sich noch immer dem Himmel entgegen.
Wie kleine Brüder verstecken sich die „Stones of Stenness“ daneben fast. Vier spitz zulaufende Steine ragen sechs Meter auf. Der Kreis ist der älteste des Archipels und wohl Teil einer Siedlung, die noch unter der Erde ruht. Weit sichtbar erhebt sich „Maeshowe“. Der Eingang des massigen Grabhügels ist so ausgerichtet, dass die Strahlen der untergehenden Sonne um den 21. Dezember die Hauptkammer erleuchten. Huldigten die Menschen am kürzesten Tag des Jahres dem Licht und der Wärme? Das neolithische Herz Orkneys ist eine geheimnisvolle Landschaft, in der Leben, Tod und Kosmos untrennbar verbunden zu sein scheinen.
Skara Brae ist eine der am besten erhaltenen Steinzeit-Siedlungen Europas.
Foto: Matthias Kutzscher
„Unsere Inseln lagen damals im Zentrum von Handelswegen. Die Menschen waren kultiviert und fähige Handwerker“, erzählt Andy Penn. Der Archäologe führt mit seiner Frau Karen über Westray im Norden des Archipels. Die Fähre aus dem Hauptort Kirkwall braucht 1,5 Stunden, Loganair 15 Minuten. Die beiden erwarten mich an der Landebahn und schließen eine Wette ab. Das machen hier alle. Zur Nachbarinsel Papa Westray geht laut Guinness-Buch der kürzeste Linienflug der Welt. Zwischen 50 und 120 Sekunden dauert er, je nach Wind. Darauf lässt sich setzen.
Obwohl sie nah beieinander liegen, unterscheiden sich die Inseln. Einige wie Hoy sind bergig, karg, rau. Westray ist eher flach und fruchtbar, mit Muschelbuchten und weißen Stränden. In den Dünen verstecken sich Ruinen der Wikinger. Die Siedlung Quoygrew war von 950 bis 1930 fast 1000 Jahre durchgehend bewohnt. Die Mythen der Nordmänner von Robbenmenschen und Seeschlangen erzählen sie sich bis heute. „Storytelling“ ist eine geschätzte Kunst auf Orkney. „Für eine Geschichte ist immer Zeit“, lacht Karen, die auf Westray geboren ist und nie wegwollte.
Nur drei Familien haben auf der Insel keinen Meerblick. Alle kennen sich. Keiner schließt das Auto ab. Doch das Leben kann hart sein. Neun Monate im Jahr regnet es, die übrige Zeit ist das Wetter schlecht. So unken die Einheimischen, die Schafe züchten, als Tourguides oder in der Fischerei arbeiten. Früher hätten sie Kabeljau gefangen, sagt Karen. Als der weggeblieben sei, wurden Krabben gejagt. Vor ein paar Jahren musste auch die Shrimps-Fabrik schließen, weil zu wenig in die Netze ging. Jetzt arbeiten 28 Leute auf Lachsfarmen. Mittags reicht sie in ihrem Haus, was Nachbarn herstellen: geräucherte Makrele, Farmhouse-Käse aus Kuhmilch, Kekse aus Sommergerste.
Karen und Andy Penn führen über die Insel Westray.
Foto: Matthias Kutzscher
Schreie fliegen durch die Luft. Wir stehen an den Klippen von „Noup Head“, die 80 Meter tief stürzen. Regen und Wind haben umkämpfte Brutplätze in den Sandstein modelliert. In Spalten und auf Kanten nistet eine der größten Seevogel-Kolonien Großbritanniens. Tausende Tordalken, Trottellummen und Seeschwalben sitzen wie Kieselsteine auf den steilen Felsen. Papageientaucher sind die Starts. „Für sie kommen Fans selbst aus Australien“, sagt Andy. Die taubengroßen Vögel wirken wie Comicfiguren mit ihren roten Flossen, den schwarz-weißen Federn und dem orange-blauen Schnabel. Leicht erstaunt und neugierig schauen die Augen aus dem Clownsgesicht.
Grau und nass hängt der Himmel über Mainland. Böen schütteln die Heide, auf der kaum ein Baum wächst. Ich sitze bei Michael Sinclair. Der 63-Jährige war Seemann und macht heute Kunst. Aus Holz drechselt der stämmige Mann Gefäße und Objekte. Er brennt filigrane Steinzeit-Symbole ein, trägt Blattgold auf und schnitzt Dekorationen, die an die Schuppenpanzer der Wikinger erinnern. „Natur und Geschichte inspirieren mich“, sagt Sinclair, der auf der Insel Sanday aufgewachsen ist. „Da musste man sich selbst helfen und kreativ sein. Jeder konnte ein Handwerk“, erzählt er. Sein Vater habe Maschinen repariert, ohne das gelernt zu haben.
Anpacken, probieren, unabhängig sein, gehört zu Orkney wie das Meer und der endlose Horizont. Auf den Inseln mit gerade 20.000 Einwohnern arbeiten erstaunlich viele Kunsthandwerker: Glasbläser, Malerinnen, Möbelbauer, Stoffdesignerinnen, Töpfer und etwa ein Dutzend Silberschmiede! „Das gibt uns eine Art Identität. Wir verstehen uns weder als Briten, noch als Schotten“, erklärt Martin Fleet, der mit seiner Mutter Sheila ein Schmucklabel betreibt. Die 100 Mitarbeiter der Firma kommen ausschließlich von den Inseln und jedes Juwel ist eine Hommage an ihre Welt voller Kraft und Magie.
Papageientaucher sind die Stars der Vogel-Kolonien auf Orkney.
Foto: Matthias Kutzscher
Über dem Strand von Scapa toben Wolken. Sonnenstrahlen zerreißen das Schwarz und schlucken den Wind. Zwei Dutzend Kanufahrer steuern auf die berühmte Bucht, die ein eisiges Grab für Menschen und Schiffe ist. 1939 torpedierte ein deutsches U-Boot den britischen Zerstörer „Royal Oak“ und riss über 800 Seeleute in den Tod. 20 Jahre vorher hatte sich die kaiserliche Hochseeflotte in Scapa Flow selbst versenkt.
Kurz vor Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags 1919 war das ein verzweifelter Versuch der deutschen Marine, in der Niederlage die Kontrolle zu wahren. Noch heute liegen einige Wracks als Mahnmal und Paradies für Taucher in den Tiefen des natürlichen Hafens. Ich treffe David Flanagan. Der Autor und Filmemacher sagt, dass fast jeder Fleck auf Orkney eine Geschichte habe. Und die Menschen der Inseln würden sie einfach weitererzählen.
Die Recherche wurde von Visit Scotland unterstützt.