Stand: 27.10.2025 15:29 Uhr
Wiederholt haben Wetterballons mit Schmuggelware aus Belarus den Flugverkehr in Litauen lahmgelegt. Jetzt will die Regierung in Vilnius die Grenze zum Nachbarn vorerst schließen – und notfalls NATO-Artikel 4 aktivieren.
Nach mehreren Luftraumverletzungen und Störungen des Flugverkehrs durch Ballons will Litauen seine Grenze zu Belarus auf unbestimmte Zeit schließen. Die Regierung des baltischen EU- und NATO-Landes sei bereit, einen entsprechenden Beschluss bei der Kabinettssitzung am Mittwoch zu treffen, sagte Ministerpräsidentin Inga Ruginiene nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates. Ausnahmen bei der Grenzschließung soll es für Diplomaten und ausreisende EU-Bürger geben.
Das litauische Militär werde zudem „alle nötigen Maßnahmen“ ergreifen, um aus Belarus einfliegende Ballons zu stoppen. Nähere Ausführungen hierzu machte Ruginiene nicht. Die Ballons steigen in der Regel nahezu senkrecht auf und überqueren die Grenze in großer Höhe. Dadurch sind sie den Behörden zufolge schwer zu erkennen.
Zwei noch offene Grenzübergänge zu Belarus wurden am Sonntag vorerst geschlossen.
Schon viermal Betrieb an Flughäfen lahmgelegt
In Litauen kam es in der Vorwoche viermal zu Störungen des Flugverkehrs wegen Wetterballons, die in Richtung von Flughäfen flogen. Sie werden üblicherweise von Schmugglern verwendet, um Zigaretten aus dem autoritär regierten Nachbarland illegal über die Grenze zu schicken. Der Flugverkehr wurde daher aus Sicherheitsgründen jeweils zeitweise eingestellt. Betroffen davon waren insgesamt mehr als 140 Flüge und mehr als 20.000 Passagiere.
Litauens Grenzschutz machte aufgrund der Vorfälle jeweils für mehrere Stunden die beiden noch offenen Grenzübergänge zu Belarus in Salcininkai und Medininkai dicht – zuletzt in der Nacht zu Sonntag. Die zwei Kontrollpunkte sollen vorerst bis Mittwoch weiter geschlossen bleiben.
Regierungschefin spricht von „hybrider Attacke“
Die litauischen Behörden stellten nach den Vorfällen mehrere gelandete Ballons sicher, an denen in Plastikfolie eingewickelte Kisten mit Schmuggel-Zigaretten befestigt waren. Außerdem wurden Personen festgenommen, die in den Schmuggel auf dem Luftweg verwickelt sein sollen.
Ruginiene kündigte an, dass in Reaktion auf die Vorfälle über höhere Strafen für Schmuggeltätigkeiten beraten werde. Nach Angaben der Regierungschefin betrachtet Litauen das Einfliegen der Ballons als „hybride Attacke“. Die belarusische Führung in Minsk sei am Schmuggel durch ihre Untätigkeit beteiligt, da diese nichts dagegen unternehme. Auch der Sicherheitsberater von Staatschef Gitanas Nauseda sagte: „Der Schmuggel dient als Deckmantel für eine hybride psychologische Operation.“
Aktivierung von NATO-Artikel 4 nicht ausgeschlossen
Litauen plant Ruginiene zufolge, sich mit seinen Verbündeten über die Vorfälle zu beraten und stehe dazu in engem Kontakt mit Polen und Lettland. Auch eine mögliche Aktivierung von NATO-Artikel 4 schloss sie nicht aus. Der Artikel sieht Beratungen mit den Verbündeten vor, wenn sich ein NATO-Staat von außen gefährdet sieht.
Artikel 4 des NATO-Vertrags
In Artikel 4 des Nordatlantikvertrages heißt es: „Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind.“ Auf der Sitzung des NATO-Rats muss das Thema besprochen werden – das kann zu gemeinsamen Beschlüssen oder Maßnahmen führen, muss aber nicht.
Der Artikel wurde seit Gründung des Bündnisses 1949 achtmal in Anspruch genommen – zuletzt Mitte September von Polen nach dem Eindringen russischer Drohnen in den Luftraum. Zuvor hatte der NATO-Rat am 24. Februar 2022 beraten, dem Tag der russischen Invasion in der Ukraine.
Der mögliche Anwendungsbereich von Artikel 4 ist weniger klar als das in Artikel 5 des Bündnisvertrags fixierte Beistandsversprechen für den Fall eines „bewaffneten Angriffs“ auf ein oder mehrere NATO-Länder. Nach Artikel 5 des NATO-Vertrages wird ein Angriff auf einen Verbündeten als Angriff auf alle Bündnispartner betrachtet. Das Beistandsversprechen sieht vor, dass alle NATO-Staaten zur Verteidigung des angegriffenen Landes beitragen. Dieser Fall trat bisher erst einmal ein: nach den Anschlägen am 11. September 2001 in den USA.
Provokationen auch von russischer Seite
Auch von russischer Seite hatte es in den vergangenen Monaten Verletzung des Luftraums baltischer Länder gegeben. Vergangene Woche hatte Litauen das kurzzeitige Eindringen russischer Flugzeuge in den litauischen Luftraum gemeldet. Und im September waren russische Kampfjets in den estnischen Luftraum eingedrungen. Estland hatte daraufhin Artikel-4-Beratungen der NATO beantragt.
Im Mai vergangenen Jahres hatte Estland Russland zudem gezielte Störungen der GPS-Satellitennavigation vorgeworfen. Außerdem habe Russland Grenzbojen auf dem Fluss Narva entfernen lassen.








