Stand: 16.11.2025 11:25 Uhr
Ultrarechter oder Kommunistin – Chile hat die Wahl. Nach innenpolitisch turbulenten Jahren deutet sich vor der heutigen Präsidentenwahl ein Rechtsruck an. Sicherheit und Migration stehen für viele Wähler im Fokus.
An einem Sonntag kurz vor den Wahlen tritt Jeannette Jara auf den Bürgersteig von Catemu, einer Kleinstadt nahe Santiago, und übt schon mal für den Ernstfall. Alle Hände hoch, ruft sie: „So werden wir in den Präsidentenpalast einziehen, und zwar wir alle!“
Die 51-jährige Juristin ist, wie die meisten hier in Catemu, ein Arbeiterkind, bezeichnet sich als „Tochter des echten Chiles“ und war die erste der Familie, die studieren konnte. Seit ihrer Jugend ist sie Mitglied der kommunistischen Partei. Heute zieht sie für Chiles Linksbündnis „Unidad por Chile“ (Einheit für Chile) in den Präsidentschaftswahlkampf. „Wachstum muss für alle da sein, darum geht es!“
Kommunistin oder eher Sozialdemokratin? Jeannette Jara will die Ungleichheit im Land bekämpfen.
Größerer Wohlstand und niedrigerer Lohn
Catemu liegt im Aconcagua-Tal, zwischen riesigen Avocado- und Pfirsichplantagen. Neben dem Bergbau ist es der Export von Agrarprodukten, der Chile wachsenden Wohlstand gebracht hat.
Aber die Lohnungleichheit bleibt ebenso hoch. Etwa ein Viertel der Arbeitnehmer verdient kaum 500 Euro im Monat, bei Lebenshaltungskosten, die etwa halb so hoch wie in Deutschland sind.
Jara, die bereits Sozial- und Arbeitsministerin war, will einen starken Staat bieten und Mittelschicht und Geringverdiener unterstützen. Dabei sei sie keineswegs eine orthodoxe Linke, vertrete vielmehr sozialdemokratische Positionen, sagt Anhängerin Nadia Arrelano.
Sie habe ihre Arbeit gut gemacht, urteilt Arrelano, es habe einige soziale Fortschritte gegeben: die 40-Stunden-Woche, Rentenanpassungen und die Erhöhung des Mindestlohns. „Sie kennt unsere Realität“, sagt Arrelano.
Eigene Lebensgeschichte als Programm
Jara war Teil der Regierung des linksprogressiven Gabriel Boric, der laut Gesetz nicht mehr erneut kandidieren darf. Boric, der seine politische Karriere in der Studierendenbewegung begann, hatte sein Amt im März 2022 angetreten, in den turbulenten Zeiten kurz nach dem sogenannten Sozialen Aufstand von 2019 und 2020, zu dessen zentraler Forderung die Reform der Verfassung wurde.
Doch der Verfassungsprozess scheiterte und mit ihm auch viele der Wahlversprechen der Boric-Regierung. Inzwischen habe sich die Stimmung im Land gewandelt, sagt der Journalist und Autor eines Buches über die Zeit des Sozialen Aufstandes, Patricio Fernandez.
Nach den großen Straßenprotesten und dem Verfassungsprozess habe die Pandemie Chile hart getroffen und für einen Stillstand gesorgt. Das sei mit einer großen, in der jüngeren Geschichte Chiles beispiellosen Migrationswelle zusammengefallen, vor allem von Menschen, die aus Venezuela flohen.
„Es war zudem ein Prozess, der völlig unkontrolliert war und deswegen von vielen als umso bedrohlicher wahrgenommen wurde.“ Da sei es nicht verwunderlich, dass jetzt ein Kandidat Erfolg hat, der sich selbst als Verfechter von Recht und Ordnung präsentiert.
Migration als Brandthema
Die Zahl der Zuwanderer hat sich in Chile in den vergangen sieben Jahren fast verdoppelt, knapp zehn Prozent der rund 19 Millionen Einwohner sind Ausländer. Nach offiziellen Zahlen haben davon 300.000 keinen legalen Status.
Gleichzeitig breiteten sich in den vergangenen Jahren, wie überall in Lateinamerika, internationale Drogenkartelle weiter aus, erstmals gab es Auftragsmorde, Erpressungen und auch mehr Raubüberfälle in Chile. Trotzdem ist Chile nach wie vor eines der sichersten Länder der Region.
In der Bevölkerung ist allerdings das Gefühl, von Kriminalität bedroht zu sein, stärker als in Mexiko oder Kolumbien. Davon profitieren die Kandidaten aus dem rechten Lager.
Wahlkampf mit Angst
„Das Leben von Millionen von Chilenen steht auf dem Spiel, heißt es in einem Wahlkampfspot von José Antonio Kast. Jeder von Ihnen kann Opfer eines Überfalls werden, der mit ihrem Tod endet.“
Kast gilt als derzeit aussichtsreichster der drei rechten Kandidaten. Die Gründe dafür beleuchtet der Autor Felipe González Mac-Conell, der in einem Buch das politische Leben des deutschstämmigen Kast untersucht hat.
Die Sicherheitskrise mit der Migration in Verbindung zu bringen und gleichzeitig unabdingbare Unterstützung der Streitkräfte auszudrücken, war schon immer seine Politik. Und jetzt, wo die Öffentlichkeit diese Themen interessieren, nutzt er das aus.
José Antonio Kast scheiterte 2022 in der Stichwahl zum Präsidentenamt – in diesem Jahr könnte er das neue Staatsoberhaupt werden.
Trump als Vorbild
Der 59-jährige Jurist und Vater von neun Kindern ist Sohn eines Wehrmachtssoldaten, tritt zum dritten Mal an und rühmte sich früher, der verstorbene Militärdiktator Augusto Pinochet hätte ihn gewählt, wenn er noch am Leben wäre.
Davon nahm er zwar Abstand, gründete die Republikanische Partei, die sich als „die wahre Rechte“ bezeichne, so Mac-Conell: „Sie sagten: Wir sind die mutige Rechte, die andere ist die feige Rechte, die die Verfassung aufgegeben hat, die die öffentliche Ordnung aufgegeben hat, die sich nicht traut, konservative Werte zu vertreten.“
Sein aktuelles Vorbild: US-Präsident Donald Trump. Kast fordert, irreguläre Migranten abzuschieben, Grenzen dichtzumachen, Gefängnisse auszubauen. „Genau das brauchen wir“, sagt Carolina Galdames, Reinigungskraft aus Santiago, deren Sohn bei einem Überfall getötet wurde. „So, wie derzeit die Lage im Land ist, werde ich Kast wählen. Er wird sich um das Thema Sicherheit kümmern. Auch bei der illegalen Einwanderung wird er mit harter Hand durchgreifen.“
Umfragen sagen zum jetzigen Zeitpunkt: Der Rechtsaußen-Kandidat Kast zieht gemeinsam mit der Kommunistin Jara in die Stichwahl im Dezember. So wie es jetzt aussieht, würden 60 Prozent der Wähler einem Kandidaten aus dem rechten Lager ihre Stimme geben.









