Die Ostsee ist eines der schmutzigsten Meere der Welt und die Lübecker Bucht ist sozusagen ihre Giftmülldeponie. Mehr als 50 000 Tonnen Munition aus dem Zweiten Weltkrieg liegen hier auf dem Meeresgrund und rosten vor sich hin. Was heraussickert, ist TNT (Trinitrotoluol), RDX (Trinitro-Triazinan) und DNB (Dinitrobenzol), Substanzen, die genauso toxisch sind, wie ihre Namen klingen. Die Gifte können „über die Meerestiere auch in unsere Nahrungskette gelangen“, sagt Bundesumweltminister Carsten Schneider laut einer Pressemitteilung. „Ich nehme das Problem sehr ernst.“
Umso erstaunlicher ist, was Meeresbiologen gerade herausgefunden haben: Ausgerechnet hier, auf der Giftmülldeponie der Ostsee, tobt das Leben. Etwa 43 000 Organismen pro Quadratmeter fanden die Forschenden auf einer erst kürzlich entdeckten Munitionshalde, auf der vor allem Sprengköpfe von V1-Marschflugkörpern lagern. Seesterne und Seenelken wachsen auf der Oberfläche dieser tödlichen Waffen, die von den Nazis gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eingesetzt wurden; Krabben und Würmer wuseln um sie herum. „Das umgebende Sediment weist eine deutlich niedrigere Dichte von Organismen auf“, schreiben die Autoren der Studie, die gerade in der Fachzeitschrift Communications Earth&Environment veröffentlicht wurde. „Nur 8213 pro Quadratmeter.“

Bei den Waffen auf dem Grund der Lübecker Bucht und anderswo in der Ostsee handelt es sich nicht um ein paar Blindgänger, die versehentlich im Meer gelandet sind. Es ist ein riesiges Waffenlager, das die Alliierten dort bewusst im Meer versenkt haben, um eine Wiederbewaffnung Deutschlands zu verhindern. Granaten, Torpedos, Panzerfäuste und anderes Kriegsgerät wurden damals von Fischkuttern aus in teilweise noch ungeöffneten Kisten ins Meer gekippt. Schätzungen gehen davon aus, dass in der ganzen Ostsee etwa 300 000 Tonnen lagern.
Doch warum fühlen sich die Tiere ausgerechnet in dieser eigentlich lebensfeindlichen Umgebung wohl? Die Forscher wissen es nicht genau, haben aber eine Vermutung. Auf dem Grund der Ostsee gibt es natürlicherweise vor allem eines: Sand. Sand ist nichts, woran man sich festhalten könnte, er hat auch keine Nischen und ist deshalb für die meisten Lebewesen kein geeignetes Zuhause. Die versenkte Munition bietet dagegen eine feste Oberfläche und Strukturen, in oder unter denen man Schutz suchen kann. Dafür nehmen die Tiere anscheinend sogar eine hochgiftige Umgebung in Kauf.
Sollte man die Munition also auf dem Meeresboden liegen lassen?
Ein ähnliches Phänomen ist schon länger von großen Offshore-Windparks bekannt. Einerseits schädigt der Baulärm Schweinswale und die Rotoren schreddern Vögel, die hineingeraten. Andererseits siedeln sich an den Fundamenten Muscheln, Schwämme, Seeanemonen und andere Tiere an. Dieses reiche Nahrungsangebot wiederum zieht Fische wie Makrelen und Kabeljau an. Mit der Zeit entstehen um solche Anlagen herum regelrechte Unterwasser-Oasen.
Doch auch wenn sich viele Meeresbewohner mittlerweile mit einem Leben auf der Giftmülldeponie in der Lübecker Bucht arrangiert haben – die Studienautoren betonen, dass das kein Grund ist, die giftige Munition dort liegenzulassen. Tests, wie sich die Munition am besten bergen lässt, wurden gerade abgeschlossen, eine schwimmende Entsorgungsanlage ist geplant. Die Forscher schlagen vor, danach Steine oder Beton als ungiftigen Ersatz zu versenken.