Präsident Lenaerts im Gespräch Wie das EuGH Vielfalt und Einheit austariert
Stand: 07.11.2025 19:19 Uhr
Ob Arbeits-, Umwelt- oder Asylrecht – die Urteile des EuGH betreffen etwa 450 Millionen Europäer. Das Gericht ist der Kitt für das gemeinsame Recht, betont EuGH-Präsident Lenaerts – selbst wenn Entscheidungen mitunter für Kritik sorgen.
Kritik gibt es am EuGH immer wieder, auch in der Politik. Im August entschied der Gerichtshof, dass Flüchtlinge nur dann aus sicheren Drittstaaten kommen, wenn dort alle Menschen ausreichend geschützt sind. Damit ist es der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verwehrt, in großem Stil Asylbewerber nach Albanien zu verschiffen, die für sie alle aus sicheren Drittstaaten kommen. Meloni war dementsprechend verärgert über den EuGH. Das Gericht beanspruche Zuständigkeiten, die ihm nicht zustünden.
Koen Lenaerts kann dieser Vorwurf nicht erschüttern. Im Gegenteil. Die Richterinnen und Richter hätten sich sehr zurückgehalten. Sie hätten einfach ganz korrekt das aktuell geltende europäische Recht ausgelegt. „Das ist eigentlich fast das Gegenbeispiel für gerichtlichen Aktivismus. Es ist eher gerichtlicher Minimalismus“, sagte er im Gespräch mit der ARD-Rechtsredaktion.
Asylrecht oft Thema am Gerichtshof
Auf die Frage, wie er die hiesige Debatte um die Zurückweisungen von Asylbewerbern an der deutschen Grenze sieht – ob er wie viele deutsche Juristen diese Politik als einen Verstoß gegen das Europarecht wertet -, hält sich Lenaerts zurück. Das sei eine innerdeutsche Frage, dazu könne er sich nicht äußern. Aber er kenne das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, dass bei den Zurückweisungen gegen das EU-Recht verstoßen werde. Er wolle den Inhalt nicht bewerten, aber ein erstinstanzliches Gericht sei absolut berechtigt, solche Fragen selbst zu entscheiden, wenn es die Rechtslage für klar halte.
Koen Lenaerts betont im ARD-Interview, wie wichtig das EuGH für den paneuropäischen Dialog ist.
Das Asylrecht beschäftigt den Gerichtshof viel. Es entschied vor gut einem Jahr, dass afghanischen Frauen grundsätzlich als verfolgt und diskriminiert anzusehen sind. Lenaerts sagt, das Urteil sei für ihn „sehr, sehr wichtig“. Es habe nicht zu Problemen geführt, sondern sei, im Gegenteil, ein Urteil, das in den Mitgliedsstaaten ziemlich gut angenommen worden sei.
EuGH-Richter müssen einiges aushalten können
Auf eine Entscheidung angesprochen, bei der Asylbewerber in Irland auf der Straße übernachten mussten, weil der irische Staat wegen einer großen Menge von Anträgen keine Unterbringungsmöglichkeit mehr sah, zeigt sich der EuGH-Präsident sehr engagiert. „Diese Leute waren absolut verloren. Das war keine menschenwürdige Behandlung.“ Damit sollte Irland nicht kritisiert werden, so etwas könne vorkommen. Aber „Bad, Bett und Brot“ könne man keinem menschlichen Wesen verweigern. Also hätten die Asylbewerber Recht bekommen.
Er weiß, dass es nach solchen Entscheidungen Kritik hagelt. Dann würde gesagt, „diese Richter in Luxemburg sind weltfremd, und sie wissen nicht, wie das hier läuft.“ Aber er würde dann immer seinen Kollegen sagen: If you can’t stand the heat, stay out of the kitchen (übersetzt in etwa: wenn du die Hitze nicht aushältst, bleib der Küche fern).
„Aussage des amerikanischen Präsidenten ist unerheblich“
Mit demselben Gleichmut begegnet Lenaerts den Drohungen des US-Präsidenten. Der hatte vor einiger Zeit angekündigt, Europa mit weiteren Zöllen zu sanktionieren, wenn die EU den großen Tech-Konzernen wie Meta oder Google zu viele Schwierigkeiten mache. Mittlerweile hat die EU-Kommission mehreren amerikanischen Konzernen Sanktionen angedroht oder sogar schon Bußgelder verhängt, weil sie zum Beispiel gegen Regeln wie den Digital Markets Act verstoßen. Viele dieser Verfahren dürften letztlich in Luxemburg beim Europäischen Gerichtshof entschieden werden.
Macht Lenaerts Trumps Drohung Sorgen? Seine Antwort: „Eine Aussage des amerikanischen Präsidenten, ehrlich gesagt, ist absolut unerheblich in dieser Hinsicht, weil er von einem anderen Gesellschaftsmodell ausgeht. Und wir folgen, was der europäische Gesetzgeber macht.“
„Bundesverfassungsgericht ist der beste Verbündete“
In Europa sei die Gerichtsbarkeit sehr unabhängig. „Das ist auch der Fall, weil wir kollegial gemeinsam vorgehen“, sagt Lenaerts. Selbst wenn eine EuGH-Entscheidung den EU-Mitgliedsstaaten Spielräume überlasse, sei das Teil des gemeinsamen Urteils. Diese Gemeinsamkeit in der Gerichtsbarkeit sei in den USA sehr viel schwächer. Deswegen lobt der EuGH-Präsident auch die nationalen Verfassungsgerichte in Europa. Sie würden zusammen mit den europäischen Gerichten für die Standfestigkeit der gemeinsamen Rechtsordnung Europas sorgen.
Nachdem es vor einigen Jahren aus Karlsruhe deutliche Kritik an der Arbeitsweise des EuGH gab und dieser Konflikt hohe Wellen schlug, ist Lenaerts nach wie vor darum bemüht, für ein gutes Verhältnis mit dem deutschen Verfassungsgericht zu sorgen. „Das Bundesverfassungsgericht ist der beste Verbündete“, so der EuGH-Präsident, schon weil es mit einer deutlichen Ansage an die inländischen Gerichte bewirkt, dass diese Fragen des Europarechts regelmäßig vom EuGH in Luxemburg klären lassen.
Wenn viel nach Luxemburg getragen wird, könne ein paneuropäischer Dialog stattfinden. „Oft klingt das an, als ob die Richter alle Integrationsförderer seien“, dass in Europa alles gleich gemacht werden solle. Das sei ein falsches Verständnis. „Die Vielfalt ist absolut Teil des Europäischen. Europäisch bedeutet nicht zentralisierend.“ Das betont der EuGH-Präsident immer wieder: Vielfalt und Einheit in Europa müssen ins Gleichgewicht gebracht werden.
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