
analyse
Stand: 20.10.2025 18:01 Uhr
Mit einem „anderen Deutschlandbild“ will sich Kanzler Merz von den „Miesmachern“ der AfD abgrenzen. Zugleich kopiert er deren migrationspolitische Rhetorik. Ein Widerspruch, der ihm zum Verhängnis werden könnte.
Montagmorgen, kurz nach 10 Uhr im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin. Nachdem die CDU-Spitze am Wochenende unter anderem über ihren Umgang mit der immer stärkeren AfD beraten hat, will sie nun ihre Ergebnisse präsentieren.
Steht die „Brandmauer“ der Union oder beginnt sie zu bröckeln? Bundeskanzler Friedrich Merz und Generalsekretär Carsten Linnemann treten ans Mikrofon, wirken frisch und konzentriert, der Kanzler spricht zuerst über Fragen der Inneren Sicherheit und kommt dann zur AfD.
Klare Kante zur AfD
Die AfD wolle die CDU zerstören und sie wolle ein anderes Deutschland, sagt Merz. Die Union und die AfD trennen ihm zufolge nicht nur Details, sondern grundsätzliche Fragen und politische Überzeugungen. Die AfD stelle nicht nur die Politik der vergangen zehn Jahre infrage, sondern Grundentscheidungen seit 1949, die auch von der Union mitgeprägt wurden.
In der Bevölkerung setze sich das Bild fest, dass die Union mit der AfD zusammen viele Dinge durchsetzen könnte – aber das sei nicht so. „Deswegen ist die von der AfD so bemüht ausgestreckte Hand eine Hand, die uns vernichten will“, sagt der Kanzler.
Die Union werde der „Miesmacherrhetorik“ der AfD ein anderes Bild von einem positiven, offenen, liberalen Land entgegensetzen. „Die Menschen in Deutschland werden auch mit sehr unterschiedlicher Auffassung und Herkunft in Deutschland leben können. Das ist unsere Auffassung, an der wir arbeiten“, so Merz.
Eine Pressekonferenz, zwei verschiedene Merz
Das wirkt besonnen, das wirkt nach einem Kanzler aller Menschen in Deutschland, der klar benennt, dass es mit ihm keine Annäherung an eine extrem rechte AfD geben wird. Doch nur wenige Minuten später reißt Merz höchstselbst diesen Eindruck wieder ein.
Ein Journalist fragt ihn nach seiner „Stadtbild“-Äußerung aus der vergangenen Woche und ob er da etwas zurückzunehmen habe, einige forderten eine Entschuldigung von ihm. Daraufhin antwortet der Kanzler: „Ich weiß nicht, ob Sie Kinder haben und wenn unter diesen Kindern Töchter sind, dann fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort.“
Er habe gar nichts zurückzunehmen, sagt Merz. „Im Gegenteil, ich unterstreiche es noch einmal. Wir müssen daran etwas ändern. Und der Bundesinnenminister ist dabei, daran etwas zu ändern.“
Rumms – so kippt man Benzin ins Feuer. In wenigen Minuten kommt Merz rhetorisch vom „liberalen Land, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft leben“ zu: Probleme löst man durch Abschiebungen.
Warum die Aussage so problematisch ist
Was daran so problematisch ist: Merz verstärkt nicht nur eine Aussage, bei der ihm viele Rassismus vorhalten, er nutzt dafür auch – bewusst oder unbewusst – AfD-Rhetorik. In der ursprünglichen Aussage von „Problemen im Stadtbild“ schwingt mit, dass man sehen kann, wer deutsch ist und somit in deutsche Städte gehört und wer nicht.
Aber in einer pluralistischen Stadt-Gesellschaft im Jahr 2025 kann niemand sehen, wer Deutsche oder Deutscher mit Migrationshintergrund und Staatsbürgerschaft ist und wer nicht. Die Antwort, die Merz nun auf die Frage des Journalisten bei der Pressekonferenz gibt, verschärft das fremdenfeindliche Element sogar.
Merz entwirft in drei Sätzen ein Szenario, wonach Frauen sich nicht mehr in die Stadt trauen – und macht dafür Migranten verantwortlich. Dagegen hilft laut Kanzler der Innenminister, also dessen härtere Migrations- und Abschiebepolitik. Indem er diesen Zusammenhang aufmacht, entspricht Merz der Dauererzählung der AfD.
Männer sind das Problem
Die AfD spricht seit Jahren immer wieder von Straftaten gegen Frauen als „importiertes Problem“ oder von Muslimen, für die „Frauen als Freiwild“ gelten. Aber nicht Migranten sind das Problem, sondern Männer, die Grenzen überschreiten.
Sexismus und Gewalt gegen Frauen sind kein Herkunftsproblem – sie sind hausgemacht, egal in welcher Kultur. Das zeigt unter anderem das Bundeslagebild „Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen“: Jedes Jahr nehmen die Zahlen zu, vor allem im Bereich häuslicher Gewalt. Etwa drei Viertel der Tatverdächtigen sind laut BKA-Statistik Männer, knapp 70 Prozent haben die deutsche Staatsangehörigkeit.
Die diskursive Brandmauer
Welche Folgen Aussagen wie die von Merz haben können, zeigt ein international vielbeachtetes Paper, das untersucht, wie Parteien der Mitte in westlichen Demokratien zur Normalisierung von rechtsextremem Gedankengut beitragen.
Wenn demokratische Parteien ähnlich wie die AfD argumentieren, reißen sie eine Brandmauer ein – aber eine andere als die oft benannte der politischen Zusammenarbeit, meint die Politikwissenschaftlerin Teresa Völker vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Ko-Autorin des Papers.
Bevor es zum Bruch der politischen Brandmauer komme, breche eine Art diskursive Brandmauer, erklärt Völker. Dazu müssten demokratische Parteien gar nicht aktiv mit der AfD zusammenarbeiten. Es reiche aus, dass sie deren Ideen und Deutungsmuster übernehmen.
Die AfD bestimmt die öffentliche Agenda
Die neue Studie von Teresa Völker und Daniel Saldivia Gonzatti zeigt, dass es die AfD in den vergangenen Jahren geschafft hat, die anderen Parteien in Debatten zu Migration vor sich herzutreiben und die öffentliche Agenda zu bestimmen. Vor allem im Kontext von Terroranschlägen ist diese diskursive Brandmauer immer wieder gebrochen, weil die anderen Parteien sich auf Positionen der AfD bezogen und ihr damit eine stärkere Bühne gegeben haben.
Die AfD bekommt dadurch vor allem bei Themen wie Migration oder Islam eine große gestalterische Macht, die öffentliche Agenda und Wahrnehmung zu bestimmen. Andere Forschungen zeigen: Greifen Parteien der Mitte die gleichen Forderungen wie die AfD auf, ist das zu ihrem Nachteil, weil die Wählenden dann das Original wählen.
Wenn die CDU also Ähnliches fordert wie die AfD, setzt sich bei Bürgerinnen und Bürgern eher der Eindruck fest: Wenn sich sogar die CDU auf die Position der AfD bezieht, dann kann das ja gar nicht so radikal sein. Das führe dazu, dass die AfD wieder ein Stück mehr legitimiert wird, erklärt Völker.
Warum Merz seine Wählerschaft enttäuschen wird
Wenn der Kanzler die Unsicherheit von Frauen damit erklärt, dass zu viele migrantische Männer im Land sind, ist das erneut ein Widerspruch zu seinem wenige Minuten zuvor formulierten Ziel, ein anderes Bild als das Untergangsszenario der AfD zu zeichnen.
Wenn Merz und die Union suggerieren, gesellschaftliche Unsicherheiten ließen sich durch härtere Migrationspolitik lösen, werden sie Erwartungen wecken, die sich politisch kaum erfüllen lassen. Wenn er die Erwartungshaltung aufmacht, dass die „Probleme im Stadtbild“ vorrangig Frauen haben und sich durch Abschiebung lösen lassen, wird Merz seine Wählerinnen zwangsläufig enttäuschen – und die Erzählung der AfD weiterhin stärken.