Wann beginnt die Saison am Strand von Grado? Darüber gibt es mutmaßlich beinahe so viele Auffassungen wie Bewohner in der Stadt – und das sind immerhin rund 7600. Die offizielle Eröffnung findet jeweils am 1. Mai statt: Dann wird die Bandiera Blu feierlich gehisst, diese blaue Fahne ist eine Auszeichnung für besonders gut ausgestattete und gepflegte Strände in Italien. In Grado ist man darauf sehr stolz, berichtet der Autor Stefan Maiwald, selbst seit zwei Jahrzehnten Bewohner der Stadt, in seinem charmanten Buch „Mein Sommer am Strand“. Denn im vergangenen Jahr bekam man die Flagge bereits zum 36. Mal verliehen. Das ist italienischer Rekord, den sich Grado lediglich mit Moneglia in Ligurien teilen muss. Lignano Sabbiadoro, der Konkurrent am anderen Ende der Lagune, hat sie erst zum 35. Mal erhalten. „Ätsch, bätsch“, so Maiwald. Reden werden bei der Saisoneröffnung gehalten, die Honoratioren tragen grün-weiß-rote Schärpen, der Priester Don Paolo spricht einen Segen, die Ortskapelle spielt einen Tusch, die Nationalhymne ertönt.
Glaubt man Stefan Maiwald, dann ist das für die Alteingesessenen allerdings weniger ein feierlicher Anlass als vielmehr eine Gelegenheit zum Lästern: Die Hose des kommissarischen Bürgermeisters wird einhellig als zu lang empfunden, einer seiner Vorgänger musste sich Jahre zuvor in den Bars und den sozialen Medien heftig verspotten lassen, weil er bei der Saisoneröffnung ein Kurzarmhemd getragen hatte. Nein, die Gradeser geben wenig auf die Obrigkeit, sie nehmen sich allesamt die Freiheit einer persönlichen Definition für den Beginn der Strandsaison. Für Maiwald ist es der Tag, wenn der Kiosk Al Faro am Alten Strand öffnet. Für seine beiden Töchter, wenn Antoniazzi seine Eisdiele aufsperrt. Wieder andere machen ihn am Ostermontag fest, weil da Ivano, der Betreiber des Beach-Clubs, stets ein Barbecue veranstaltet – das erste große Treffen der Bewohner am Strand. Nicht wenige erklären die Saison für eröffnet, wenn sie zum ersten Mal ins Wasser gehen.

Es gibt allerdings auch diejenigen, für die alles bereits im Januar anfängt. Dann, wenn Kipplaster neuen Sand an den Hauptstrand karren, weil im November oder Dezember ein Hochwasser zu viel vom alten fortgespült hat. Es gilt unter den selbsternannten Fachleuten zu klären, ob der neue Sand den Ansprüchen genügt. „Über die Qualität des herbeigeschafften Sandes können die Gradeser stundenlang reden“, weiß Maiwald aus eigener Erfahrung: „Doch eine echte Debatte kommt dabei nicht auf. Denn früher, finden alle, war alles besser. Der Sand weißer und feinkörniger, irgendwie karibischer.“ Dabei kommt der Sand für den Hauptstrand seit etlichen Jahren vom Alten Strand auf der anderen Seite der Altstadt, wo genug angespült wird.
Ein Strandsommer ist ein Kosmos für sich, und Stefan Maiwald taucht tief in einen solchen ein. Der Sommer beginnt, wie gesagt, im Januar, im März dann nehmen die Vorbereitungen richtig Fahrt auf – es sind die Wochen und Monate, in denen die Gradeser noch unter sich sind. Wo sie bereits beschäftigt sind mit Ausbesserungen und Aufbauten, aber noch nicht vollkommen in Beschlag genommen von ihrer Arbeit und den dann anwesenden Touristen.

Die Einheimischen und die Touristen – Stefan Maiwald verbindet diese beiden Sphären in seinem Buch miteinander. Zum einen schildert er, was in seiner „Strandfamilie“ geschieht. So bezeichnet er die Menschen, die über gemeinsame Jahre am Strand zu Bekannten und Freunden geworden sind. Zum anderen ist etliches von dem, was der Autor schildert, hilfreich für Besucher, die nur für eine oder zwei Wochen hier sind. Und das meiste davon ist übertragbar auf die meisten Adriastrände. Die Frage zum Beispiel: Welche Reihe wählt man am besten, wenn man einen Schirm und Liegen mietet? Für Maiwald ganz klar: hinten. „Die erste Reihe ist völlig überschätzt, wenn ihr mich fragt.“ Ihm ist es dort zu laut und zu trubelig, außerdem fühlt er sich dort wie auf einem Präsentierteller. „Ich habe das Treiben lieber vor mir.“
Auch das der Touristen. „Wer immer an den gleichen Adriastrandabschnitt fährt, macht meines Erachtens vieles richtig.“ Ohnehin sei es eine gute Idee, sein Leben möglichst lange am Meer zu verbringen. Und ein Urlaub am Strand in Grado erspare einem jeglichen „Erlebnisstress“.

Wovon man als Besucher nichts mitbekommt, ist das Strandleben der Einheimischen. In das seiner Clique nimmt einen Maiwald mit, er macht einen bekannt mit dem größten Lästermaul zwischen mindestens Triest und Venedig – Valentina, eine Person wie aus einem Film von Pedro Almodóvar. Dazu Adriano, ein Fischhändler. Edo, der neue Bagnino, den die Clique mit Lara verkuppeln will, einer Drei-Tage-Zahnärztin aus Wien, die an vielen langen Wochenenden nach Grado kommt. Und ein paar weitere Menschen, einige liebenswerte, einige lächerliche.
Es sind kleine, heitere Geschichten, einige Lästereien, angereichert um ein paar grundsätzliche Gedanken übers Stranddasein, die Lust machen auf Tage am Meer. All jenen, die nicht wie der Autor gleich direkt an der Adria leben, mit einem Balkon mit Meerblick.
Stefan Maiwald: Mein Leben am Strand. Warum zwischen Sonne und Meer die Leichtigkeit liegt. Mosaik Verlag, München 2025. 304 Seiten, 22 Euro.