 
         Mentale Gesundheit junger Menschen „Wir werden viel zu häufig allein gelassen“
Stand: 30.10.2025 21:36 Uhr
Immer mehr junge Menschen kämpfen mit psychischen Belastungen. Eine neue Studie zeigt, dass Depressionen, Angststörungen und Einsamkeit auch der Wirtschaft schaden. Schülervertreter fordern mehr Hilfe.
Von Luca Kissel, ARD-Hauptstadtstudio
Nele Vogel hat in diesem Jahr Abitur gemacht und spricht offen über ihre Depression, die sie seit vier Jahren begleitet. Zur Schule gehen sei oft eine Überwindung gewesen, sagt sie. Nicht weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht konnte: „Das fängt schon beim Aufstehen an. Der Schritt aus dem Bett fühlt sich an wie eine unüberwindbare Aufgabe. Dabei bedeutet er für ganz viele andere Menschen, denen es eben gut geht, das Allerkleinste ihres Tages.“ Unterstützung fehlte, über psychische Gesundheit sei im Unterricht kaum gesprochen worden.
Gleichzeitig prasselten Krisen auf sie ein – wie Krieg, Klimawandel oder Wehrdienstdebatte. Dazu Kommentare in den sozialen Medien, die psychische Erkrankungen als „Modeerscheinung“ abtun. Für Nele ist das verletzend und ein Grund, warum sie sich bei der Bundesschülerkonferenz (BSK) engagiert, die nun in Berlin auf das Thema aufmerksam machte.
„Die Pandemie hat Schleifspuren hinterlassen“
Unterstützt wurden die Schüler dabei vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), das nun eine Auswertung diverser Studien vorgelegt hat. Daraus geht hervor, dass die Kosten psychischer Erkrankungen der Gesamtbevölkerung sich jährlich auf knapp 150 Milliarden Euro belaufen.
Michael Hüther, Direktor des IW, erklärt, dass Untersuchungen zeigten, „dass die Hälfte aller psychischer Erkrankungen vor dem 15. Lebensjahr auftreten, etwa drei Viertel vor dem 25. Lebensjahr“. Die große Zahl dieser Leiden habe daher ihre Wurzeln in den frühen Lebensjahren. Zwar habe sich die Lage seit der Corona-Pandemie etwas verbessert, so Hüther. Das Niveau der Vor-Corona-Jahre habe man dennoch nicht wiederherstellen können. „Die Pandemie hat hier Schleifspuren hinterlassen.“
Großer Schaden auch für die Wirtschaft
Der IW-Chef verwies auf verschiedene Studien, wonach mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen von psychischen Auffälligkeiten betroffen seien und mehr als ein Drittel der Schülerinnen und Schüler unter Einsamkeit litten – hauptsächlich Mädchen und Kinder aus Familien niedrigem sozioökonomischem Status. „Dabei ist es dort häufig nicht die Frage des Einkommens, sondern eher die Frage der Lebenssituation, der Wohnungssituation, der Betreuungsmöglichkeiten und der Möglichkeiten, im familiären Gespräch.“
Das hat auch volkswirtschaftliche Auswirkungen, zeigt die Studie. „Erwerben junge Menschen in diesem Bereich so starke Einschränkungen, dass sie im Erwachsenenalter nicht am Arbeitsmarkt aktiv werden können, tragen sie später nicht nur nicht zur Wertschöpfung der deutschen Wirtschaft bei, sondern sind zumeist auch in hohem Maße auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen“, heißt es in dem IW-Papier. Angesichts niedriger Geburtenraten kommt Hüther zu einem klaren Schluss: „Ich darf niemanden liegen lassen.“
Zehn-Punkte-Plan vorgelegt
Um in Zukunft besser mit psychischen Problemen umzugehen, hat die BSK einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt. Sie fordert unter anderem mehr Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen, außerdem die Förderung von maßvollem und angemessenem Umgang, vor allem mit digitalen Medien, in allen Unterrichtsfächern.
Quentin Gärtner, Generalsekretär der BSK und Mitglied der Grünen Jugend, appellierte an die Politik. Um auf den Arbeitsmarkt klarzukommen, müssten junge Menschen resilient genug sein, die Probleme anzupacken, die ihnen aufgetragen werden: „Wir haben Bock, aber wir werden viel zu häufig allein gelassen.“
Das fordert die Bundesschülerkonferenz
- Mehr Personal in Schulsozialarbeit und im schulpsychologischen Dienst
- Bessere Schulstrukturen: individuelle Förderung, mehr Pausen, Entlastung der Lehrkräfte, gute Ganztagsmodelle
- Förderung von Medienkompetenz in allen Unterrichtsfächern
- Mentale Gesundheit als Querschnittsaufgabe für alle Schularten und Unterrichtsfächer
- Fortbildungen, die Lehrkräfte und pädagogisches Personal befähigen, sich den Herausforderungen psychischer Belastungen zu stellen
- Gesundheitsförderung als Teil der Schulkultur etablieren mit Strategien zur Prävention und Früherkennung von psychischen und physischen Krankheiten (z. B. Angebote für mehr Bewegung, gesunde Ernährung und Einsatz schulgerechter digitaler Tools zur Unterstützung von mentaler Gesundheit)
- Verbindliche Schutzkonzepte gegen Mobbing und Diskriminierung
- Vermittlung von Schlüsselkompetenzen wie Selbstregulation und Stressbewältigung im Unterricht und in außerunterrichtlichen Angeboten
- Schulbauten mit Rückzugsräumen, guter Akustik, viel Licht und ausreichend Platz
- Umfassende Begleitung, Unterstützung und Nachteilsvermeidung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sowie für junge Menschen in risikobehafteten Lebenssituationen
Bildungsministerium erarbeitet Strategie
Gefragt nach dem politischen Stellenwert der mentalen Gesundheit junger Menschen schreibt das Bundesbildungsministerium, dass eine Strategie „Mentale Gesundheit für junge Menschen“ in Erarbeitung sei. „Die Schwerpunkte der Strategie sollen auf Prävention und Früherkennung psychischer Erkrankungen liegen, insbesondere durch Aufklärung und niedrigschwellige Beratung von Eltern sowie Fortbildung von Pädagoginnen und Pädagogen sowie weiteren Fachkräften“, teilte eine Sprecherin mit.
Für die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Anja Reinalter, geht das nicht schnell genug: „Für die Jugend tickt die Uhr schneller. Da ist ein Jahr einfach deutlich länger als für ein Ministerium.“
Philipp Türmer, Bundesvorsitzender der Jusos, sieht die psychische Gesundheit junger Menschen angesichts der Krisen vergangener Jahre, einer immer zerstritteneren Gesellschaft und zunehmenden Druck in Schule, Ausbildung und Studium unter immer größerer Belastung: „Es ist dringend geboten, dass die Politik und allen voran die Bundesregierung dieses Problem endlich ernst nimmt.“
Für Nele beginnt Veränderung mit Zuhören und mit Unterricht, der psychische Gesundheit nicht ausklammert. Denn die Katastrophe, die aus psychischen Belastungen erfolgt, „ist auf jeden Fall eine stille Katastrophe“, erklärt sie. Heute arbeitet sie daran mit, das Problem laut zu machen. Die Politik, so die Botschaft des Tages, soll nun liefern.
 
			 
					








 
                
