Stand: 13.09.2025 09:39 Uhr
Der Literaturnobelpreis ist für viele der große Traum. Doch welche Folgen hat er für die Ausgezeichneten? Abdulrazak Gurnah hat nun seinen neuen Roman veröffentlicht – und erklärt, warum es wichtig ist, bescheiden zu bleiben.
Zehn Romane hatte Abdulrazak Gurnah schon geschrieben. Der elfte war in Arbeit: Eine Geschichte aus seiner Vergangenheit, die er schon lange erzählen wollte, über einen Jungen, der zu Unrecht des Diebstahls angeklagt wird. Die Arbeit ging gut voran, doch dann, im Oktober 2021, klingelte das Telefon – und Gurnahs Leben veränderte sich von Grund auf. Die Königliche Akademie aus Stockholm war am Apparat: Abdulrazak Gurnah war ausgewählt worden für den Literaturnobelpreis. „Danach war es für mich unmöglich, in meinem Kopf den Platz zu finden, um weiterzuschreiben“, erzählt er im ARD-Interview.
Denn plötzlich stand Gurnah im Rampenlicht. Bis dahin kannten nur wenige den in Tansania geborenen britischen Autor, der in Kent postkoloniale Literatur unterrichtete. Nun nahm die Welt von ihm Notiz, Anfragen für Reisen nach China und die Arabischen Emirate landeten auf seinem Tisch, sowie zahlreiche Einladungen zu Tagungen, Festivals, Diskussionsrunden. Die Routine, das regelmäßige Schreiben, geriet in den Hintergrund.
„Warum sollte ich mich noch anstrengen?“
„Der Preis bringt viele Anforderungen mit sich, man trifft sehr viele Menschen und vielleicht ist da auch diese Selbstversicherung: Okay, ich habe es geschafft, die Arbeit ist getan, warum sollte ich mich noch anstrengen?“, erinnert sich Gurnah und verweist auf Samuel Beckett. Als dieser 1969 den Nobelpreis erhielt, sagte dessen Ehefrau: „Das war’s jetzt. Mehr wird er nicht mehr schreiben!“ Eine Prophezeiung, die sich nicht ganz bewahrheitete, doch die großen Dramen Becketts entstanden vor dem Preis.
Auch Rudyard Kipling, der 1907 mit gerade einmal 41 Jahren mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, gelang danach kein einziger Roman mehr. Und Wole Soyinka, der nigerianische Nobelpreisträger aus dem Jahr 1986 bezeichnete die Auszeichnung sogar als „Fluch“, der ihm keine Zeit mehr ließe, um zu schreiben. Erst 35 Jahre später, als er wegen der Corona-Pandemie nicht mehr reisen konnte, gelang es ihm wieder, einen Roman zu schreiben.
Schreiben als Preisträger wird nicht leichter
Bei Abdulrazak Gurnah waren es nur vier Jahre. Denn das Thema seines Buches beschäftigte ihn weiterhin. „Es hat ungefähr ein Jahr gedauert, bis ich wieder zu meinem Manuskript zurückkehren konnte“, erzählt er. „Doch selbst in diesem Jahr habe ich mich im Kopf immer wieder mit der Geschichte auseinandergesetzt und machte mir Notizen. Die einzige Sorge, die ich hatte war, dass, wenn ich das Manuskript wieder zur Hand nehme, es mir nicht mehr lebendig vorkommt.“
Doch das Gegenteil war der Fall. Sein Roman „Diebstahl“, der nun auch auf Deutsch erschienen ist, nahm immer mehr Gestalt an. Der Schreibprozess habe sich durch den Nobelpreis gar nicht verändert, sagt Gurnah. Er sei immer noch so schwer wie vorher: „Es ist der alte gleiche Kampf darum, die Dinge auf der Seite oder auf dem Computer wahr werden zu lassen“, sagt er. „Du kannst dem Computer schließlich nicht sagen: Hey, aufgepasst, weißt Du, wer ich bin? Hier schreibt ein Nobelpreisträger. Nein, Du musst immer noch selbst schreiben.“
Der Schriftsteller wird zur politischen Stimme
Natürlich sei ihm dabei bewusst, dass seine Bücher jetzt von mehr Menschen gelesen würden, dass er mehr Aufmerksamkeit bekomme. Nicht nur für seine Bücher, auch für seine Person. Immer wieder wird Gurnah nicht nur für literarische Fragen, sondern auch für politische Äußerungen angefragt – und bezieht Stellung.
Als 2023 eine geplante Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse abgesagt wird, weil einige Kritiker in ihrem Roman „Eine Nebensache“ ein antisemitisches Narrativ sehen, kritisierte er dies scharf, gemeinsam mit anderen Nobelpreisträgerinnen wie Annie Ernaux und Olga Tokarczuk. Damit werde „der Raum für palästinensische Stimmen in der Literatur geschlossen“, heißt es in ihrem offenen Brief.
Kritik an Gurnah
Er selbst geriet in die Kritik, als er öffentlich eine Petition der BDS-Bewegung unterschrieb, die sich für einen Boykott Israels einsetzt. „Ich habe meinen Namen auf die Liste derer gesetzt, die sagten: Wir wollen nicht in Israel veröffentlicht werden“, sagte Gurnah jüngst in einem Interview mit der indischen Zeitschrift Frontline.
In Deutschland wurde die BDS-Bewegung im Verfassungsschutzbericht 2023 als extremistischer Verdachtsfall eingestuft. Im Verfassungsschutzbericht 2024 heißt es: „Die Unterstützung der BDS-Bewegung kann ein Merkmal für eine extremistische Bestrebung sein.“
Schon 2019 hatte der Bundestag mit großer Mehrheit eine Resolution gegen die BDS-Bewegung und deren Ziele verabschiedet und darin erklärt: „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch.“ Der allumfassende Boykottaufruf der Bewegung führe „zur Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes“.
Gurnah erklärt seine Position so: „Ich würde nie sagen, lest keine israelischen Autoren, aber was mich betrifft, gibt es dort so viele Ungerechtigkeiten und ich möchte lieber nicht Teil von irgendwelchen Aktivitäten sein, die von diesem Staat ausgehen.“
„Bemerkenswert zu sein ist schwierig“
Als politischen Sprecher sieht sich Gurnah dennoch nicht. Er sei vor allem Schriftsteller, sagt er. Daran hätte auch der Nobelpreis nichts geändert. Zu dieser Einstellung passt das Zitat des Schriftstellers Joseph Conrad, das er seinem neuen Roman vorangestellt hat: „Im Allgemeinen ist bemerkenswert zu sein recht schwierig.“
„Wenn du dir vornimmst, jemand Besonderes zu sein, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es dich verändert und in hässliche Umstände führt“, sagt Gurnah.
Große Literatur aus den Problemen des Alltags
Seine Figuren sind daher keine Menschen mit herausragenden Positionen. Keine Helden. Es sind Händler, Lehrerinnen, Hausangestellte. „Ich kenne keine Helden oder Millionäre“, so Gurnah. „Ich kenne Menschen wie dich und mich, die mit ihren großen und kleinen Problemen fertig werden müssen, ohne dass sie mit einem Privatjet davor davonfliegen können. Sie stellen sich ihren Problemen. Meine Figuren sind solche Menschen, weil das die Menschen sind, die ich kenne.“
Der Nobelpreisträger von 2021, er ist bescheiden geblieben. Und ein großartiger Schriftsteller, der für seine Romane keine großen Dramen braucht, sondern dem es auch in seinem neuen Roman gelingt, dass aus den Problemen des Alltags große Literatur wird.