Herr Stiglitz, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für einen „progressiven Kapitalismus“. Was können wir uns darunter vorstellen?
Darunter verstehe ich eine Marktwirtschaft, die eine Vielfalt an institutionellen Verbindungen eingeht – mit NGOs, Genossenschaften, der Zivilgesellschaft und vor allem mit dem Staat. Kollektives Handeln kann nicht nur durch den Staat erfolgen, sondern auch durch Gewerkschaften, Verbände, Sammelklagen. Ich wende mich gegen die Vorstellung, es gäbe nur den Staat oder den Markt. Das ist viel komplexer. Ein zentrales Element des „progressiven Kapitalismus“ ist die Idee von Checks and Balances – also Machtbegrenzungen. Nicht nur innerhalb der Regierung, sondern auch in der Gesellschaft. Gefahr entsteht immer dann, wenn sich zu viel Macht in einer Hand konzentriert. Das sehen wir gerade in den USA: Die Oligarchen, die Konzerne haben zu viel Einfluss. Die Frage ist also: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, in der niemand zu viel Macht anhäuft, in der Rechtsstaatlichkeit gilt und in der diese auch durchgesetzt wird? Wir dachten, wir hätten in den USA einen funktionierenden Rechtsstaat, aber Donald Trump hat gezeigt, wie leicht man diesen aushebeln kann. Er zwingt uns, neu darüber nachzudenken, wie wir eine Gesellschaft schaffen, in der alle teilnehmen können, keiner dominiert wird und alle profitieren.
Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und neurechter Politik? Zum Beispiel ist doch der ungarische Regierungschef Orbán kein Freund freier Märkte…
Der Begriff „Neoliberalismus“ ist an sich schon irreführend. „Liberal“ sollte eigentlich für Freiheit stehen. „Neo“ sollte das Ganze modern wirken lassen, aber es war nur eine Neuauflage von Ideen des 19. Jahrhunderts. In der Praxis ging es beim Neoliberalismus nie wirklich um Freiheit, sondern darum, die Spielregeln so umzuschreiben, dass einige wenige profitieren konnten. Banken durften riskant und räuberisch agieren, bis es zur Finanzkrise kam – und wir alle mussten die Zeche zahlen. Es war Freiheit für einige, aber nicht für alle. Die neue Rechte – Trump, Orbán und so weiter – gibt inzwischen nicht einmal mehr vor, für Freiheit zu stehen. Eigentlich geht es nur noch um Konzerninteressen und Machtpolitik, nicht mehr um eine liberale Wirtschaftsordnung. Die neue Rechte hat die Fassade des Liberalismus aufgegeben. Es ist jetzt purer Korporatismus: „Was immer gut für meine Freunde aus der Wirtschaft ist, ist gut für uns alle!“ Europa hält in manchen Bereichen noch immer am neoliberalen Denken fest. Zum Beispiel bei Banken- oder Technologieregulierung: Dort hört man oft, man müsse den Unternehmen mehr Freiheiten geben, um Innovation zu fördern. Ich sehe es genau umgekehrt: Gute Regeln schaffen Vertrauen, verhindern Missbrauch und führen langfristig zu besseren Innovationen.
Sie befürworten staatliche Regulierung – ist das aber nicht genau das, was die Trump-Regierung derzeit tut? Staatliche Investitionen in den Chiphersteller Intel oder die Idee, sich auch bei führenden Rüstungsunternehmen als Teilhaber zu engagieren?
Trump hat keine konsistente Ideologie. Ihn interessiert vor allem Geld und Macht. Er ist ein großer Befürworter von Kryptowährungen, obwohl sie Geldwäsche und Steuerflucht erleichtern. Manche sagen, Trump habe dadurch persönlich mehr als eine Milliarde Dollar verdient – er ist selbst ein großer Nutznießer seiner Kryptopolitik. Korruption wurde dadurch auf ein neues Niveau gehoben. Das zeigt: Finanzinteressen dominieren seine Politik, nicht das Gemeinwohl. Industriepolitik – also gezielte Investitionen etwa in grüne Technologien oder Chipproduktion – kann sinnvoll sein. Märkte investieren oft zu wenig in solche Zukunftsbereiche, deshalb ist staatliche Unterstützung wichtig. Wir sind momentan stark abhängig von Taiwan bei der Chipproduktion. Jeder, der sich die Geographie ansieht, erkennt das Risiko. Manche Chips sind fundamental wichtig für unsere Wirtschaft, und jedes Land muss über ein gewisses Maß an nationaler wirtschaftlicher Souveränität verfügen. Das ist kein Nationalismus, das ist einfach Vorsicht.

Das klingt so, als ob Trump doch auch etwas richtig machen würde?
Nein, denn die Art und Weise, wie er es macht, ist schlecht. Ist es sozialistisch oder rechts, wenn er zehn Prozent der Intel-Aktien übernimmt? Ich würde sagen, es ist vor allem mafiös. In einem Rechtsstaat stellt man die Frage: Wie organisieren wir solche Dinge im Rahmen von geordneten Verfahren? Ich glaube, es ist nicht unvernünftig, dass die Regierung massive Subventionen unternimmt und dass der Staat dann am Gewinn beteiligt wird. Aber es sollte einen rechtlichen Rahmen dafür geben. Man verhandelt nicht von Fall zu Fall. Trumps Verwaltung tritt den Rechtsstaat mit Füßen. Wenn es zum Beispiel einen Verstoß gegen eine Regel gibt, gibt es im Rechtsstaat ein Verfahren mit Urteil. Dann kann man prüfen: Hat es einen Verstoß gegeben oder nicht? Aber Entscheidungen werden nicht nach dem Willen einer einzelnen Person getroffen. Dieser Prozess ist in Demokratien wichtig. Für Trump aber ist alles reine Verhandlungssache. Sein Ansatz ist willkürlich, er belohnt Freunde und bestraft Gegner – ohne klare Regeln. Das ist eher Mafia-Stil als verantwortliche Industriepolitik.
Was sind die Unterschiede zwischen Trumps erster und zweiter Amtszeit?
In der ersten Amtszeit gab es viel Chaos. Ständige Personalwechsel, Inkohärenz. In der zweiten Amtszeit sind einige dieser Probleme immer noch vorhanden, aber es sind noch andere hinzugekommen. Es gibt immer noch viel Chaos. Zum Beispiel sagt Trump, er wolle Ausländer dazu bringen, in den USA zu investieren. Die USA haben jedoch nicht genug Fachkräfte, um erfolgreiche Investitionen in die moderne Industrie zu ermöglichen. Südkorea begann, in die USA zu investieren, konnte aber die benötigten Fachkräfte nicht schnell genug über die offiziellen Visumkanäle bekommen. Dann hatte es endlich die Facharbeiter mit Visa, aber Trump behauptete, sie seien auf dem falschen Visum hier. Er führte dann eine Razzia durch und legte sie in Ketten. Manche in Südkorea sagen, ein Kriegsgefangener werde besser behandelt als ihre Facharbeiter, die versuchten, in den USA Wohlstand zu erwirtschaften. Was bewirkt das? Es entmutigt Investitionen in den USA. Einerseits sagt Trump, er wolle Investitionen in den USA, andererseits entmutigt er Investoren – und das ist nur ein Beispiel von vielen Inkohärenzen.
Trump sagt zum Beispiel, er wolle unser Handelsdefizit verbessern. Wichtige Einnahmequellen für die USA sind der Dienstleistungssektor, Tourismus, Bildung. Was macht er stattdessen? Er entmutigt Touristen, hierherzukommen, indem er Menschen willkürlich verhaftet. Die Leute haben inzwischen Angst, in die USA zu kommen. Die Tourismuszahlen sind stark gesunken, also wird unser Defizit größer. Junge Leute bekommen immer schwerer ein Ausbildungsvisum. Ein junger Student, der an einer guten europäischen und amerikanischen Universität aufgenommen wird – wo wird er im Moment wahrscheinlicher hingehen? Nach Europa – dort gibt es gute Universitäten, aber nicht die Gefahr, in Ketten gelegt zu werden. Und der größte Unterschied zwischen Trumps erster und zweiter Amtszeit: Jetzt feuert der Präsident rücksichtslos hervorragende Karrierebeamte. Die Zerstörung des öffentlichen Dienstes war in der ersten Amtszeit gering, in der zweiten Amtszeit ist sie enorm. Trump will „America Great Again“ machen. Ich verstehe das Ziel, Amerika wieder großartig zu machen, aber was er tut, ist genau das Gegenteil.
Wie schätzen Sie als jemand, der das staatliche Schuldenmachen oft verteidigt, Trumps Versuch ein, Kontrolle über die Fed zu erlangen, um günstig Schulden zu machen, indem er die Zinsen künstlich niedrig hält?
Trump will die Unabhängigkeit der US-Notenbank beenden, um billiger an Geld zu kommen. Aber stabile Währungen beruhen auf Vertrauen und unabhängigen Institutionen. Wenn ein Präsident nach Belieben Geld druckt, drohen Inflation und Instabilität. Genau das haben unabhängige Zentralbanken bisher verhindert. Trumps Vorgehen untergräbt die Demokratie und die Glaubwürdigkeit des Dollars.

Unlängst sagten Sie: „Das Risiko, dass die Demokratie in Amerika verloren geht, liegt bei mindestens 50 Prozent.“ Wenn ich Ihnen jetzt zuhöre, scheint es vielleicht sogar noch höher zu sein – was oder wer kann Trump noch stoppen?
Lassen Sie mich eine pessimistische Sicht und eine optimistische Sicht geben. Die pessimistische Sicht: Trump hat versucht, die Ergebnisse der Wahl 2020 anzuzweifeln, bei der er mit sieben Millionen Stimmen Abstand verloren hat. Trotzdem habe ich Umfragen gesehen, die zeigen, dass 70 Prozent aller Mitglieder der Republikanischen Partei glauben, Trump habe recht. Selbst nachdem es etwa 60 Gerichtsentscheidungen gab, die minutiös darlegten, dass es keinerlei Probleme bei der Wahl gab und alles korrekt ablief. Wenn das 2020 der Fall war, aber dieser Irrglaube 2025 immer noch vorhanden ist, und jetzt hat Trump auch noch die präsidiale Macht, warum sollten wir annehmen, dass er diese Macht nicht auf die eine oder andere Weise nutzen wird, um politischen Druck auszuüben? Wählerunterdrückung, Stimmen nicht zählen, die Wahl manipulieren – wir kennen das Vorgehensmuster. Wir wissen, wie Faschisten Wahlen manipulieren. Das ist die pessimistische Sicht. Es ist schwer zu glauben, dass das nicht ein sehr wahrscheinliches Szenario ist. Aber die optimistische Sicht: Die Dinge im Land laufen so schlecht, dass sich Widerstand regt. Die Unfähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, die steigenden Lebenskosten. Wenn Trump tatsächlich beginnt, seine groß angekündigten Zölle durchzusetzen, werden die Preise steigen. Es gibt viele Dinge, die in unserer Gesellschaft nicht gut laufen. Die Lebenserwartung sinkt beispielsweise gerade. Es gibt viele Dinge, die gewöhnlichen Amerikanern Sorge bereiten, und das sieht man auch in den Umfragen. Die Umfragen zeigen, dass kein Präsident zu diesem Zeitpunkt je niedrigere Werte hatte. Die Amerikaner reagieren also. Wenn Trump genügend Stimmen verliert, werden wir mit der Wiederherstellung unserer Demokratie beginnen. Das ist meine Hoffnung.
Haben Sie Hoffnung in die Demokraten? In jemanden wie Gavin Newsom, den neuen politischen Star aus Kalifornien?
Ich denke, es ist noch zu früh, um das zu sagen. Ich glaube, dass in der Demokratischen Partei auf lokaler und staatlicher Ebene gerade viel Energie freigesetzt wird. So wie unsere Regierung in den USA organisiert ist – als präsidiales System – bedeutet es, dass, wenn man nicht im Amt ist, es keinen einzelnen Führer gibt, der die ganze Partei zusammenhält. Vielleicht ist das gut, vielleicht schlecht. Der Grund, warum es gut ist: Es bedeutet, dass jede Region im Land jemanden hat, der auf die Bedürfnisse dieser Region reagiert. Wir haben also gute Gouverneure in Pennsylvania, Colorado, Illinois. Der wahrscheinliche Gewinner der Wahl in New York ist ebenfalls ein sehr starker Progressiver, der die Bürger wie nie zuvor mobilisiert hat. Es gibt also Potential, da bin ich hoffnungsvoll. Meiner Meinung nach gibt es bei den Demokraten eine sehr große und gute Auswahl an Kandidaten. Newsom macht einen großartigen Job, indem er Trump scharf und wirkungsvoll kritisiert. Das ist wichtig, um einige der Gefahren, die mit Trump verbunden sind, offen zu legen.
Und in wirtschaftlicher Hinsicht – macht Newsom die richtigen Vorschläge?
Ich kenne nicht alle Details seiner Vorschläge. Im Moment würde ich sagen: Die Hauptsache ist für mich, dass jemand dieses Chaos stoppt. Damit die USA wieder Teil der Welt werden und nicht andauernd versuchen, sich überall Feinde zu schaffen. Innerhalb unseres eigenen Landes passiert das Gleiche: Trump liebt es, Feinde zu machen. Wir brauchen jemanden, der versucht, uns zusammenzubringen.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zum Attentat auf Charlie Kirk. Wie werten Sie dieses Ereignis mit Blick auf das nationale Bewusstsein?
Nun, ich würde sagen: Dabei geht es um die Frage, wie das Gewähren von Freiheit für einige oft die Freiheit anderer einschränkt. Wenn man beispielsweise den Banken die Freiheit gibt, zu tun, was sie wollen, nutzen sie diese Freiheit, um andere auszubeuten. Die Banken gingen zu hohe Risiken ein, also mussten wir Steuern zahlen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Wir verloren unsere Jobs, wir verloren unsere Häuser. Auf diese Weise verloren wir unsere wirtschaftliche Freiheit. Die Freiheit der Pharmafirmen, für ihre Medikamente und Impfstoffe während der Pandemie beliebig hohe Preise zu verlangen, bedeutete den Verlust der Freiheit zu leben, die meiner Meinung nach die wichtigste Freiheit ist. Die Freiheit zu leben, ist für mich die zentrale Freiheit. Das bringt mich zu dem Kernproblem in Sachen Kirk: die Freiheit, ein Gewehr zu tragen. Einige bei den Rechten sagen, das sei eine fundamentale Freiheit. Ich sage: Wenn Sie diese Freiheit gewähren, wenn es so viele Waffen in den USA gibt, werden sie benutzt werden. Und wenn sie benutzt werden, nehmen sie über kurz oder lang jemand anderem seine zentrale Freiheit – das Recht zu leben. Wie Sie wahrscheinlich wissen, gibt es in den USA fast täglich Massenmorde. Wir haben unseren Kindern ihre Angstfreiheit genommen. Kinder, wenn sie bei uns zur Schule gehen, müssen lernen, was zu tun ist, falls ein Massenmörder in ihr Klassenzimmer kommt. Eltern machen sich Sorgen, ob ihre Kinder am Ende des Tages nach Hause kommen. Wir haben jedem Elternteil und jedem Kind in diesem Land die Freiheit von Angst genommen, um die Freiheit zu gewähren, eine Waffe zu tragen. Was ist wichtiger: die Freiheit, ein Gewehr zu tragen, oder die Freiheit zu leben und frei von Angst zu sein? Jede vernünftige Gesellschaft würde meiner Meinung nach zu dem Schluss kommen, dass die Freiheit zu leben und die Freiheit von Angst wichtiger sind.