
analyse
Aussage des Kanzlers Merz‘ Problem mit dem „Stadtbild“
Stand: 16.10.2025 17:27 Uhr
Der Bundeskanzler äußert sich inzwischen zurückhaltender als früher. Doch nun spricht Merz im Zusammenhang mit Migration von einem Problem im „Stadtbild“. Warum das für Irritationen sorgt.
Als Bundeskanzler muss man seine Worte genau wählen. War Friedrich Merz als Oppositionsführer für seine markigen Sprüche bekannt, hält er sich nun meist zurück. Und doch gibt es eine Aussage des Kanzlers, die in dieser Woche aufhorchen lässt, weil sie in ihrer Tragweite größer ist, als sie zunächst klingt.
Bei einem Termin in Brandenburg sagte er am Dienstag, bei der Migration habe seine Regierung viel erreicht und die Zahlen der neuen Asylanträge von August 2024 auf August 2025 um 60 Prozent reduziert. Dann fügte er hinzu: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“
Dröge fordert „ein bisschen mehr Anstand“
Die Interpretationsversuche der Aussage sind seitdem zahlreich, auch im Bundestag war sie heute mehrfach Thema. „Es wäre auch Zeit für ein bisschen mehr Anstand, Herr Merz“, sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge. Merz‘ Satz sei verletzend, diskriminierend und unanständig.
Unions-Fraktionschef Jens Spahn erwiderte darauf: „Ich weiß nicht, Frau Kollegin Dröge, wo in Deutschland Sie unterwegs sind, aber an den Hauptbahnhöfen, auf den Marktplätzen dieses Landes, sind natürlich die Folgen irregulärer Migration zu sehen.“ Sie beschäftigten die Menschen. „Und natürlich müssen wir darüber reden, was das mit diesem Land macht“, so Spahn.
Unklares Gefühl der Fremdartigkeit
Erst vor wenigen Wochen hatte auch CSU-Chef Markus Söder den Begriff des „Stadtbilds“ genutzt. Vom Münchner Merkur wurde er gefragt, ob er sich dafür einsetze, dass auch nicht-straffällige Syrer und Afghanen Deutschland verlassen müssen. „Das muss zwingend passieren“, antwortete Bayerns Ministerpräsident. „Das Stadtbild muss sich wieder verändern. Es braucht einfach mehr Rückführungen.“
Das Problem mit dem Begriff „Stadtbild“: Er greift ein unklares Gefühl der Fremdartigkeit und der Angst auf, ohne genau zu beschreiben, was damit gemeint ist. Der Begriff fungiere als beschönigender Code für „die sichtbare Anwesenheit von Menschen, die als nicht-deutsch oder nicht-weiß wahrgenommen werden, und zwar unabhängig von ihrer tatsächlichen Staatsbürgerschaft“, erklärt Nina Perkowski, Soziologin an der Universität Hamburg, auf Anfrage von tagesschau.de.
Die Formulierung sei „nicht neutral beschreibend“. Damit werde „ein kollektives Gefühl des Unwohlseins“ konstruiert, nur weil Unterschiede sichtbar werden, und so würden Maßnahmen wie Abschiebungen als notwendige Reaktion auf eine vermeintlich „gestörte Ordnung“ legitimiert. „Das erzeugt ein Klima, das rassistische Anfeindungen und Übergriffe befördert.“
„Keine einheitliche öffentliche Meinung“
Perkowskis Forschung zeige: „Es gibt keine einheitliche öffentliche Meinung zu Migration und Sicherheit. Vielmehr existieren fundamental unterschiedliche, teils widersprüchliche Sicherheitsverständnisse.“ Es gebe allerdings eine „dominante narrative Struktur, die Migration seit Jahrzehnten als Sicherheitsbedrohung rahmt“ – und zwar von politischen Akteuren aller Parteien, verstärkt durch mediale Berichterstattung.
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) in Berlin zeigt: Die Kriminalitätsfurcht korreliert nur teilweise mit der Entwicklung der Kriminalität. Zuletzt ging die Kriminalitätsrate zurück, die Furcht davor stieg aber.
Besonders rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen hätten erfolgreich Ängste vor einem „rassifizierten Anderen“ geschürt und damit nicht nur Wahlerfolge erzielt, sondern auch den Diskurs nach rechts verschoben, sagt Perkowski. Die Soziologin betont auch: „Viele Menschen in Deutschland – gerade auch jene mit Rassismuserfahrungen – empfinden nicht Migration, sondern Rassismus, Diskriminierung und soziale Exklusion als zentrale Bedrohungen ihrer Sicherheit.“
Merkel hat noch anders reagiert
Bislang kamen Aussagen wie die von Bundeskanzler Merz vor allem von der AfD. Schon 2017 sagte der damalige AfD-Chef Jörg Meuthen zum Beispiel in der Berliner Runde unmittelbar nach der Bundestagswahl: „Ich sehe zum Teil in den Innenstädten, in denen ich mich bewege, nur noch vereinzelt Deutsche. Das kann nicht Ziel unserer Politik sein.“
Die damalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel, antwortete ihm, sie wisse nicht „was Sie sehen, denn ich kann auf der Straße Menschen mit Migrationshintergrund, die deutsche Staatsbürger sind und solche, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht haben, nicht unterscheiden“. Der heutige Kanzler scheint eine andere Wahrnehmung zu haben.